Ahnentanz
verließ den Balkon, auf dem sie so oft mit Amelia gesessen hatte, und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie hoffte, dass man sie nicht gesehen hatte. Sie wusste, dass der Anwalt die Flynns getroffen und ihnen die Besitzurkunde für die Plantage übergeben hatte.
Sie hatte nur nicht erwartet, dass sie hier auftauchten. Jedenfalls noch nicht.
Sie war gekommen, um ihre letzten Sachen zusammenzupacken. Bücher und CDs, die sie Amelia geliehen hatte, ein paar Kleidungsstücke, die sie hiergelassen hatte für die Nächte, in denen sie geblieben war, um der alten Dame Gesellschaft zu leisten. Sie hatte getan, was sie konnte, um Amelia zu helfen, hatte ihr Liebe und Loyalität gezeigt. Schließlich war die ältere Frau auch für sie da gewesen, als sie dringend jemanden gebraucht hatte. Amelia war entzückend gewesen und hatte mit Vorliebe faszinierende Einzelheiten und Geschichten der örtlichen Historie erzählt und von der Legende, die das Haus umgab. Sie hatte vieles erlebt, und es war ihr gelungen, die Plantage zu behalten – auch wenn sie den Verfall nicht hatte verhindern können. Das allein zeigte, was für eine bemerkenswerte Frau sie gewesen war.
Kendall blickte zu Boden und bemerkte, dass sie etwas festhielt. Das wunderschöne alte Tagebuch, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte, als sie für Amelia einen Umschlag mit Papieren heraussuchen sollte. Sie hatte das Tagebuch nebenAmelias Bett gelegt und vorgehabt, es später zu lesen, doch irgendwie war sie nie dazu gekommen. Bis heute.
Ausgerechnet heute, wo sie eigentlich nur kurz ihre Sachen holen wollte, hatte sie es in die Hand genommen und aufgeschlagen.
Und es war faszinierend. Es stammte von einer Frau, die während des Bürgerkriegs in dem Haus gelebt hatte. Nachdem Kendall die ersten Einträge überflogen hatte, war sie rasch völlig vertieft. Sie staunte über die Tatsache, dass sie ein mehr als hundertundfünfzig Jahre altes Buch in den Händen hielt, dass sie Worte las, die vor so langer Zeit geschrieben worden waren. Die Gedanken einer Frau, die inmitten eines furchtbaren Krieges gelebt hatte, der Familien auseinanderriss. Worte vom Überleben. Es gab in dem Tagebuch kleine Tratschereien über das alltägliche Leben, und es gab auch Hoffnungen und Träume für die Zukunft.
Das Tagebuch hatte sie viel länger im Haus festgehalten als geplant, und nun waren die Erben im Anmarsch.
Rasch stopfte sie das Buch in ihren Rucksack.
Es gehörte ihr nicht. Es gehörte den Männern, Amelias einzigen lebenden Verwandten.
Aber sie musste es zu Ende lesen. Sie würde es nicht behalten, sondern nur so lange borgen, bis sie die letzte Seite gelesen hatte. Danach würde sie es so schnell wie möglich zurückgeben. Und nun musste sie sich zurechtlegen, wie sie den neuen Besitzern der Plantage begegnen wollte.
Kendall dachte daran, sich zu verstecken. Sich zur Hintertür hinauszustehlen. Doch vermutlich würden sie ihren Wagen bei den Ställen bemerken, bevor sie ihn erreichte. Nein. Es war besser, ihnen entgegenzutreten, auch wenn sie nicht hier sein sollte, nicht ohne Erlaubnis.
Sie würde sich für ihr Eindringen entschuldigen, erklären, dass sie nur ihre Sachen holen wollte, und dann so schnell wie der Teufel verschwinden.
Sie hatte Jeremy Flynn am Tag vorher im Radio gehört, wie er darüber sprach, Spendengelder zu sammeln, um jenen Kindern zu helfen, die durch den Hurrikan ihre Familie verloren hatten. Er war eindeutig ein Macher und sprach sehr überzeugend. Sie musste zugeben, dass er ihr in dem Radiogespräch gefallen hatte.
Laut dem Anwalt waren es drei Brüder, die zusammen eine Privatdetektei betrieben. Vermutlich lauerten sie auf Schnappschüsse von verheirateten Männern, die eine Affäre hatten, und spionierten Babysittern hinterher.
Das French Quarter war eine ziemlich verschworene Gemeinschaft, und sie hatte dort gehört, dass ein anderer der Brüder ein netter Kerl und hervorragender Gitarrist sei.
Der dritte Bruder allerdings …
Ein knallharter Typ, hatte sie gehört. Erst beim Militär, dann beim FBI.
Er würde sie vermutlich wegen unbefugten Eindringens verhaften.
In Wahrheit jedoch schuldeten die Männer ihr aufrichtige Dankbarkeit. Sie war diejenige, die für Amelia da gewesen war. Und das nicht zu ihrem persönlichen Gewinn. Sie hatte sich angewöhnt, die meiste Zeit hier draußen zu verbringen, weil Amelia Angst gehabt hatte. Amelia hatte ihre ganzes Leben in diesem Haus verbracht, doch in den letzten Monaten war sie überzeugt
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