Ahoi Polaroid
Klara. Plotek erkannte eine Person, die zusammengekauert auf einem Karton saß. Es war Vinzi. Er sah nicht gut aus. Aber immerhin: Die Augen hatte er noch. Auch das Herz schien am richtigen Fleck zu sein. Zumindest atmete er. Doch er wirkte, als wäre er kurz vor dem Erfrieren. Die Kälte hatte ihm ziemlich zugesetzt. Das Wichtigste aber war: Er lebte. Er lächelte jetzt sogar kurz. Der Stewart schob Plotek auf Vinzi zu und ließ den Rollstuhl neben dem Karton stehen.
»Moment noch«, sagte Plotek und drehte sich mitsamt dem Rollstuhl zu den beiden um. Der Steward schien überrascht. Klara weniger. »Ja?«
»Was sollten die Kameras in den Kabinen?«, fragte Plotek.
Der Steward und Klara sahen sich erstaunt an.
»Welche Kameras?«
Entweder bluffen die wieder, oder sie haben mit den Kameras in den Kabinen tatsächlich nichts zu tun, grübelte Plotek. Aber wenn die nicht, wer dann? Die Schiffsgesellschaft? Der Reiseveranstalter? Ist das vielleicht eine dieser dubiosen Maßnahmen im allgemeinen Überwachungs-, Kontroll – und Sicherheitswahn? Kampf gegen den Terror? Bespitzelung. Telekom. Bahn. Schlecker. Edeka. Ihr Platz. Lidl und alles. Heute spitzelt nicht mehr die Stasi von Staats wegen, kam es Plotek in den Sinn, sondern jedes Unternehmen ganz individuell. Guck und Horch liberalisiert quasi. Für den freien Markt. Wobei der Staat natürlich nicht untätig zuguckt und Däumchen dreht. Eher im Gegenteil. Er macht mit. Der öffentliche Raum ist mittlerweile besser durchleuchtet als der Körper eines Krebskranken oder die Koffer auf dem Frankfurter Flughafen. Biometrische Datenbanken, genetische Fingerabdrücke, Vorratsdatenspeicherungen, große Lauschangriffe, satellitenbasierte Bewegungsprofile, Gesichtserkennungssysteme, Nacktscanner. Und, und, und. Und warum das Ganze? Plotek konnte seinen Gedankenfluss nicht bremsen, während der Steward und Klara ihn weiter verwundert anstarrten. Die Innere Sicherheit ist das Argument, das den Hindukusch nach Hoyerswerda verlegt, den ganzen Irak nach Idar-Oberstein transportiert, Bin Laden und die Taliban, rasiert und mit Brüsten getarnt, an den Kassen bei Tengelmann vermutet. Und wenn man leise anfragt, ob das nicht übertrieben ist, wächst einem in Sekundenschnelle gleich selbst ein Bart bis zu den Brustwarzen und ein Turban ziert den Kopf. Folge: Schon braucht man für die letzten zehn Jahre ein lückenloses Alibi. Bedeutet: Probleme, Probleme, Probleme. Schlussfolgerung: Privatsphäre gibt es nur noch im Sarg, eins achtzig unter der Erdoberfläche.
»Schon gut«, sagte Plotek und wandte sich von den beiden ab.
»Warme Gedanken wünschen wir euch.« Noch ein letztes Lachen der Frau, bevor sich die schwere Tür von außen wieder schloss. Gleichzeitig ging die Neonleuchte aus. Die beiden saßen jetzt im Dunkeln. Und schwiegen. Erstaunlicherweise. Offenbar mussten sie sich erst einmal wieder aneinander und an diese ziemlich prekäre Situation überhaupt gewöhnen. Bis Vinzi schließlich »Schön, dich zu sehen« sagte. Und eine Spur verzweifelter: »Das ist ein kleiner Trost in dieser trostlosen Angelegenheit.«
Na ja, von Sehen konnte eigentlich keine Rede sein. Es war stockfinster in dieser Kältehölle. Plotek griff in seine Hosentasche. Er holte ein Feuerzeug heraus und knipste es an.
»Dich auch«, sagte er. Beide versuchten zu lachen. Was gründlich misslang. Plotek sah sich um. Der Kühlraum war eher ein Kühlhaus und extrem unwirtlich. Überall standen waschmaschinengroße Kisten herum, aufeinandergestapelte Säcke, Paletten und Schachteln. Alles von flackernden Schattenrissen umspielt.
»Was ist da eigentlich drin?« Plotek zeigte auf einen der Behälter und stand aus dem Rollstuhl auf.
»Was wird schon drin sein?!« Vinzi tat wenig überrascht. »Schweinehälften, Elchfleisch, Rentierbraten, tiefgefrorene Fische und alles, was halt gekühlt werden muss.« Plotek riss einen der Kartons auf, und Überraschung: Im flackernden Schein der Feuerzeugflamme fragte er fast schon resigniert: »Seit wann haben Schweine Hände?«
»Nicht, oder?«
»Doch.«
»Wer?«
»Hmm. Sieht nach Sailer aus!« Damit machte er den Karton wieder zu.
»Scheiße.« In diesem Moment ging das Feuerzeug aus. Und nicht mehr an. Das Gas war aufgebraucht. Worüber Plotek und Vinzi nicht unbedingt traurig waren. Im Dunkeln blieb ihnen wenigstens das sichtbare Grauen erspart. Im Übrigen: Wäre es nicht so kalt gewesen, und die beiden hätten zwei Weißbiere vor sich stehen gehabt, wäre
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