Ahoi Polaroid
vom Nebentisch zu ihnen herüber. Es waren Herr und Frau Weber aus Berlin-Köpenick, die in ihren gelben Blousons fast identisch aussahen.
»Was stellen Sie denn für Schokolade her?«, wollte Paula Vogler-Huth mit ihrer piepsigen Stimme wissen, ihren Blick in der Diätpampe versenkt.
» Paula!«, warnte die Mutter.
»Fragen darf ich ja wohl, ich esse sie ja nicht.« Noch piepsiger.
»Hoffentlich nicht. Du hast schon viel zu lange viel zu viel von diesen. . .«
»Aber ich habe doch nur. . .« Kaum mehr verständlich, weil so piepsig.
»Paula!« Herlinde Vogler-Huth fiel keifend über ihre Tochter her. Der Gesichtsausdruck erinnerte an eine Eruption. Erdbeben, Vulkan, Lava, Dampf. Ihre Hände fuchtelten in der Luft herum, als suchten sie nach Halt. »Du weißt ganz genau, dass dir allein der Gedanke daran nicht guttut. Ich glaube, wir müssen darüber nicht diskutieren. Schau dich an, dann . . .«
Die Webers vom Nebentisch wendeten sich peinlich berührt wieder ab. Paula fing an zu weinen und versteckte ihr fettes Gesicht hinter den fetten Händen. Was alle anderen am Tisch, außer der Mutter vielleicht, ebenfalls peinlich berührte. Plotek und Vinzi auch. Schließlich sprang die Achtzehnjährige vom Tisch auf, als hielte sie sich selbst nicht mehr aus, und machte einen Schritt zur Seite in den Gang des Speisesaals. Dabei fädelte sie allerdings am Riemen ihrer um den Stuhl hängenden Handtasche ein und verhedderte sich so unglücklich, dass sie stolperte und stürzte. Und auf Vinzi fiel, der neben ihr im Rollstuhl saß. Jetzt kann man sich vorstellen, was passiert, wenn eine ungefähr einhundertzwanzig Kilogramm schwere Frau auf einen im Rollstuhl sitzenden beinlosen Mann fällt. Genau. Sie riss ihn mit sich in den Abgrund. Soll heißen: Paula stürzte samt Vinzi zu Boden. Sie landete dabei halb unter dem Gefährt, während Vinzi aus dem Stuhl kullerte, als würde der ihn wie einen Fremdkörper ausspucken.
»Paula!«, schrie die Mutter. Woraufhin die Tochter sofort wieder aufsprang. Was bei ihrem Gewicht umso erstaunlicher war und fast schon tänzerisch leichtfüßig aussah und Plotek irgendwie an den dreibeinigen Hund und seinen modernen Ausdruckstanz à la Pina Bausch erinnerte. Paula entfernte sich mit schnellen Schritten vom Tisch, eskortiert von den entsetzten Blicken der anderen Restaurantbesucher. Plotek konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er Vinzi auf dem Rücken, die Arme und Stummelbeine von sich streckend, am Boden liegen sah. Er erinnerte an ein haariges, hässliches, niedergerungenes Insekt.
Plotek stellte den Rollstuhl wieder auf die Räder, und Vinzi hievte sich missmutig vom Boden hinein.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals«, sagte die Mutter, »aber das Nervenkostüm meiner Tochter ist in letzter Zeit so, so . . .«, sie überlegte kurz, ». . . so angeschlagen, so brüchig, so dünn, so . . .«
Kein Wunder, dachte Vinzi, bei dieser Mutter. Und Plotek dachte: bei diesem Fraß.
Dieser Gedanke ließ seinen Magen auch gleich wieder rumoren.
Paula Vogler-Huth kehrte nicht mehr an den Tisch zurück. Urs Eschenbach war nicht viel später der Nächste, der den Speisesaal verließ. Auch Plotek und Vinzi verabschiedeten sich bald und ließen Herlinde Vogler-Huth und Ruedi Eschenbach, die sich gerade gegenseitig und zum Teil zeitgleich ihr Leben erzählten, allein zurück.
Draußen auf dem Vorderdeck unter der Brücke standen ein paar leere Liegestühle, zum Teil zusammengeklappt, im schummrigen Licht herum. Sie sahen aus wie schlafende dürre Tiere. Plotek und Vinzi steckten sich eine Zigarette an, steuerbord an die Reling gelehnt.
»Ist dir der Pfaffe auf den Magen geschlagen?«, fragte Vinzi nach ein paar Zügen.
»Hmm.«
»Du hast dich doch übergeben, oder?«
»Hmm.«
Vinzi lächelte den Rauch aus sich heraus. »Komischer Typ!« Er stockte, sah Plotek erstaunt an und fragte: »Oder bist du etwa seekrank?«
»Hmm.«
»Oder beides?«
Sie rauchten und schauten aufs Wasser, das wie eine schwarze schweigende Matte vor ihnen lag. Ab und zu blickten sie in den wolkenlosen Himmel, der wie Falschgeld funkelte.
»Schön hier, eigentlich, oder?«, kam es nach einer Weile von Vinzi.
»Auch kühl.«
»Stimmt.«
Plotek schloss seine Cordjacke. Vinzi schnipste die Zigarettenkippe über Bord und steckte sich noch eine an. Dann schauten sie wieder abwechselnd auf das Wasser und zum Himmel hoch. Bis Vinzi leise, fast wie nebenbei, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden, sagte: »Wir werden
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