Ahoi Polaroid
eine brutale, oft erniedrigende Zeremonie. Heute ist davon kaum noch etwas übrig.«
»Gott sei Dank!« Urs Eschenbach war erleichtert. Er wischte sich wieder mit der flachen Hand über die nassen Haare.
»Ich freue mich schon darauf.«
»Ich nicht«, sagte Plotek. Woraufhin Herlinde ihm wieder liebevoll über den Unterarm strich und dabei lächelte, als wollte sie sagen: »Das wirst du schon noch verstehen.«
Vinzi schnarchte wieder. Seit gut einer Stunde. Er hatte sich hinlegt, die Augen geschlossen und war augenblicklich eingeschlafen. Vinzi träumte sicher von Swantje, mit der er auch an diesem Abend nicht zu einem befriedigenden Resultat gelangt war. Träumte von ihrer Oberweite, der tänzelnden Zunge und einem erotischen Abenteuer.
Bevor Swantje, nachdem sie zusammen die Bar verlassen hatten, in ihrer Kabine verschwand, hatte sie Vinzi länger als jemals zuvor umarmt. Auch länger, als das in solchen Fällen üblich war. Sie drückte ihn dabei so entschlossen an sich, dass sein Kopf zwischen ihren Brüsten gänzlich verschwand. Er ließ sich anschließend benommen ins eigene Bett fallen. Oder besser: schwerelos, luftig leicht hineinschweben. Dabei kam ihm mehrmals hintereinander ein ebenso euphorisches wie ungläubiges »Wahnsinn!« über die Lippen. Fast lautlos, aber für Plotek doch wahrnehmbar.
Der konnte wieder mal nicht schlafen. Aber nicht nur wegen Vinzi, seiner Schnarcherei und seines taumelnden Glücks. Die Luft in der Kabine war unerträglich warm und stickig. Es roch nach Alkohol, Rauch und ungewaschenen Socken. Auch ein wenig nach dem süßen Parfüm von Swantje, das bei Plotek leichte Kopfschmerzen verursachte. Zudem hatte sich das Schaukeln des Schiffes unangenehm verstärkt. Regentropfen klatschten gegen das Glas, was sich wie aufprallende Kieselsteine anhörte. Plotek hörte die Wellen des Ozeans rauschen und gegen den Rumpf des Schiffes schlagen. Er zog den Vorhang ganz zur Seite, so dass die Mitternachtssonne einen Lichtschimmer in die Kabine warf. Der matte Schein legte sich auf die Bettdecke und floss über die vier Pralinenkugeln hinweg, die auf dem Bord neben dem Bett lagen und in ihrem Silberpapier wie Sterne leuchteten. Alles drehte sich in Ploteks Kopf. In seinen Augen. In der Kabine. Die Gedanken fielen übereinander her. Sie boxten, zerrten an ihm und warfen ihn, einem Pendel gleich, in die eine, dann in die andere Richtung. Er dachte an die Augen von Kuhlbrodt, an die von Augustin, an Agnes, die Schlägerei in seiner Küche, an Marcella . . .
Dann wurde ihm schlecht. Sein Magen zog sich zusammen. Es kribbelte verdächtig die Speiseröhre entlang. Er warf seinen Kopf auf dem Kissen hin und her, was aussah wie die ersten Anzeichen von Hospitalismus. Bis er schließlich erschöpft einschlief. Und träumte. Von Agnes. Und ein weiteres Mal von dem Boxkampf mit ihr. Diesmal war Agnes aber nicht Muhammad Ali, sondern der Ringrichter. Die Boxer hingegen waren Lars Kuhlbrodt als George Fore-man und Ralf Augustin als Muhammad Ali. Beide blind, ohne Augen. Und wo bin ich, hätte Plotek denken müssen, wenn er gedacht hätte. Er dachte aber nicht, sondern träumte, und dabei entdeckte er sich plötzlich selbst. Er saß nackt in der Ringecke, mit Blutergüssen am ganzen Körper. In seinen Handflächen lagen vier Augen, zwei blaue und zwei braune. Er ließ sie wie Billardkugeln um sich selbst kreisen und schien auf etwas zu warten. Bis plötzlich der Gong ertönte. Woraufhin sich alle auf Plotek stürzten. Augustin, Kuhlbrodt und Agnes begannen, brutal auf ihn einzuprügeln. Das hatte nichts mehr mit Boxen zu tun. Das war eine andere, eine ihm unbekannte Disziplin. Und: in erster Linie unfair, gemein und gefährlich. Schläge unter die Gürtellinie wechselten sich ab mit Fußtritten, Arschtritten und Kopfstößen. Die Augen noch immer in der Hand, stürzte Plotek auf den Boden, während die anderen mit den Füßen voraus auf ihn draufsprangen: Als wäre er nicht Plotek, der unbeteiligt in einer Ringecke gewartet hatte, sondern ein liederliches Stück Scheiße, das für immer vernichtet werden musste. Bis der Boden plötzlich krachend brach. Unter Plotek riss ein Loch auf, das sich zu einer unübersichtlichen Weite ausdehnte, einem Himmel mit Kumuluswolken gleich, durch den er mit ausgebreiteten Armen, in den Händen noch immer die Augen, hindurchsegelte. Dabei verlor er stetig an Höhe. Unter ihm tauchte eine Landschaft auf. Bayern. Dann eine Stadt. Es war die bayerische Landeshauptstadt.
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