Ahoi Polaroid
Reden und Herumstehen um den Tresen nach dem Abendessen und bis weit über Mitternacht hinaus verband. Wobei Plotek nicht ganz sicher war, ob dabei alle die gleichen Interessen hatten. Es sah eher so aus, als führten unterschiedliche Motive zum selben Resultat. Soll heißen: Das Herumstehen und Trinken war nur Mittel zum Zweck, der sich bei allen zu unterscheiden schien. Herlinde Vogler-Huth zum Beispiel hatte sicher ein anderes Interesse als Steffen Sailer. Ruedi Eschenbach ein anderes als der Busfahrer Weber aus Berlin-Köpenick. Auch für Swantje Schmitz schien das abendliche Trinkgelage etwas anderes zu bedeuten, und erst recht für Dr. Hubertus C. Bruchmeier. Oder für Mausi. Selbst für Vinzi hatte die Tresenzeit mittlerweile einen anderen Stellenwert als für Plotek. Was sie früher verband, trennte sie jetzt: Bier, Schnaps, Tequila, Aquavit. Vinzi schien sich weniger für die Kaltgetränke zu interessieren. Auch kaum noch für Plotek. Einzig und allein für Swantje. Sie hatte es offenbar mit Hilfe ihrer Oberweite und schönen Worten geschafft, das auszuschalten, wofür Plotek Vinzi immer geschätzt hatte. Nämlich seinen messerscharfen analytischen Verstand. Seinen abgrundtiefen Humor. Seine Selbstironie, die nahtlos und elegant in weltgewandten Zynismus überging. Vor dem nichts und niemand gefeit war. Jetzt war nichts mehr von alledem vorhanden. Jetzt saß da ein beinamputierter hässlicher Kerl, der sich von einer aufgebrezelten Schönheit um den Finger wickeln und mit dem unausgesprochenen Versprechen eines sexuellen Abenteuers die letzte Würde rauben ließ. Nicht, dass er ihm das kleine Abenteuer nicht gönnen wollte, mit wem auch immer. Aber dass Vinzi dafür gleich Haus und Hof über den Haufen schmeißen musste, schien ihm dann doch ein zu hoher Preis zu sein. Davon abgesehen war er fest davon überzeugt, dass es Swantje nicht um eine erotische Eroberung ging. Eher darum, Vinzi an der Nase herumzuführen und sich von ihm großzügig aushalten zu lassen; was er dann auch gerne und gönnerhaft tat. Keine Kunst, mit 80 000 im Katheter.
»Du bist ja bloß eifersüchtig«, sagte Vinzi lächelnd, als Plotek ihm seine Bedenken auftischte.
Ganz Unrecht hatte er da sicher nicht. Natürlich hätte sich auch Plotek gerne den Wanst von dieser Schönheit streicheln lassen. Wer nicht? Aber alles zu seinem Preis, und der schien ihm in Bezug auf Swantje eben zu hoch zu sein. Darüber dachte Plotek jetzt nach, als er wieder am Tresen lehnte und von Herlinde Vogler-Huth einmal mehr zugetextet wurde. Herlinde begeisterte sich für Tromsø, die Stadt, an der sie am nächsten Morgen anlegen würden. Und für den bevorstehenden nächsten Landgang.
»Die Pforte zum Eismeer.« Herlinde streichelte Ploteks Unterarm. So wie sie das sagte, klang es wie: »Die Depilation meines Venushügels.« – »Der Seefahrer Fridtjof Nansen startete von hier aus zu seiner berühmten Expedition in die Arktis. Auch Roald Amundsen, der berühmteste norwegische Polarforscher, der als erster Mensch den Südpol erreicht hat, machte sich von hier aus zu seiner Antarktisexpedition auf.« Hörte sich an, als wäre sie selbst dabei gewesen. Plotek hingegen nahm sich vor, den Landgang in Tromsø ausfallen zu lassen.
»Seine Expeditionsleidenschaft wurde dem norwegischen Nationalhelden dann auch zum Verhängnis.« Herlinde fuhr fort und streichelte Plotek weiter. »Um einen italienischen Luftschiffpionier zu retten, der in der Arktis abgestürzt war, unternahm Amundsen eine Bergungsexpedition, von der er nicht mehr zurückkehrte.« Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Die Liebkosung von Ploteks Unterarm wurde eingestellt. Also nichts mehr mit Amundsen und lustigen Anekdoten aus der Vergangenheit. Eher im Gegenteil.
»Er blieb verschwunden. Spurlos. Seither gilt er als verschollen.« Herlinde Vogler-Huth sah jetzt aus, als wollte sie gleich anfangen zu weinen. Tat sie aber dann doch nicht, sondern sagte nur: »Ich bin so berührt.« Und schniefte ein wenig. Dann lachte sie gekünstelt, als müsste sie sich selbst zur Ordnung rufen.
»Apropos.« Plötzlich wirkte sie wieder bestens gelaunt. »Hast du heute schon den attraktiven Mann mit den schulterlangen blonden Haaren gesehen? Du weißt schon . . .«
Klar wusste Plotek. »Kuhlbrodt!«
»Ja.«
»Verschwunden. Spurlos.« Es hörte sich an wie: »Tot. Ermordet.«
Herlinde lachte, wie bei einem Witz. Einem ganz besonders guten sogar.
»Seither gilt er als verschollen.« Plotek sagte es so,
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