Ahoi Polaroid
ohnehin längst verloren zu haben.
Jetzt war Mausi Weber dran. Der Steward griff ihr geschickt in die Windjacke am Hals. Mausi kreischte gleich los, obwohl noch gar kein Eiswürfel ihre Haut berührt hatte. Neptun langte in die Eistruhe. Er fuchtelte vor Mausis Gesicht herum, die jetzt glucksende und gutturale Laute von sich gab, welche an ein Tier erinnerten - Löwe, Bär. Nicht Maus. Und dann steckte er ihr die Eiswürfel in den Kragen. Das Tier schrie auf. Der Schrei wurde ein Blöken. Die Maus vom Löwen zum Rind, und das wurde gleich wahnsinnig. Soll heißen: BSE, Creutzfeldt-Jacob und alles. Mausi sprang auf dem Deck auf und ab, schüttelte sich hin und her, drehte sich im Kreis, jaulte, jauchzte und johlte dabei. Sie zerrte und riss an ihrer Windjacke herum. Dann versagten ihre Beine. Oder besser: Der Boden, durch den leichten Regen glitschig geworden, verweigerte den Kontakt zu Mausis Sohlen und ließ sie der Länge nach hinschlagen. Der Rinderwahnsinn hatte gesiegt, das Rind war mausetot. War es natürlich nicht. Aber bewegen konnte das Mausivieh sich trotzdem nicht mehr.
»Bärli«, schrie Mausi, so wie man nach der Letzten Ölung verlangt, und meinte natürlich ihren Ehemann. Der Busfahrer Weber aus Berlin-Köpenick scherte aus der Schlange aus, touchierte dabei Ruedi Eschenbach, der das Unglück mit seiner Kamera unbedingt festhalten wollte, stürzte zu seiner Frau und versuchte, sie wieder in die Vertikale zu stemmen. Kein Problem, hätte die Gattin nur 49 Kilo gewogen. Mausi Weber aß nämlich nicht nur gerne Schafsköpfe, sondern vor allem Buletten, Schweinsbraten, Sahnetorten und Unmengen Schokolade in allen Formen und Variationen. Also nichts mit 49 Kilo Lebendgewicht. Eher 94! Da Busfahrer Bärli kniend seine Mausi mit beiden Armen umschlang, um sie und sich selbst vom Boden hochzuhieven, kamen seine 94 Kilo noch hinzu. Machte runde 188 Kilo! Das war selbst für einen ausgewachsenen deutschen Busfahrer zu viel. Folge: Das Doppelpaket verlor das Gleichgewicht und rollte übereinander auf den feuchten Holzplanken herum. Mausi wurde dabei zu einer Art Insekt - Sorte Kartoffelkäfer -, das sich nicht mehr bewegen konnte und wild mit den Gliedmaßen fuchtelte. Bärli dagegen landete auf dem Bauch und ruderte mit den Armen, als wollte er zu einem rettenden Ufer schwimmen. Das rettende Ufer kam aber zu ihm, denn drei weitere Stewards sprangen herbei und befreiten die beiden mit vereinten Kräften aus dieser misslichen Lage. Als sie das Paar wieder auf die Beine gestellt hatten, applaudierte das Volk, so wie die Menschen immer applaudierten, wenn der Kelch des Pechs an ihnen vorüberging und die anderen Verunglückten oder Verschollenen nach Tagen doch noch lebend gerettet wurden. Mausi und Bärli wurden, gestützt von den drei Stewards, ins Innere des Schiffes abtransportiert, nicht ohne vorher noch die hart erkämpfte Urkunde zu empfangen, welche Mausi, als wäre es eine olympische Trophäe, voller Stolz in die Luft reckte. Was wiederum zur Folge hatte, dass die anderen Passagiere umso lauter applaudierten und schrien. Allein Paula Vogler-Huth schrie nicht. Unbeeindruckt empfing sie die Eiswürfel, als berührten sie die fette Haut unter ihrer Bluse erst gar nicht. Und schon gar nicht ihre Empfindung. Sie gab keinen Mucks von sich und griff nach der Urkunde, als würde sie sich damit gleich den Hintern abwischen. Dann stürzte sie den Aquavit hinunter. Was böse Blicke ihrer Mutter zur Folge hatte.
Ruedi Eschenbach versuchte hingegen sogar noch, die eigene Taufe in allen Details zu filmen. Was zu einer akrobatischen Verrenkung führte. Er hielt die Kamera weit hinter sich, um die Hand Neptuns, die in einem Gummihandschuh steckte und gerade unter seinem Hemdkragen verschwunden war, für die Ewigkeit digital festzuhalten. Was ihm aber nicht gelang. Die Eiswürfel waren doch zu kalt. Oder Ruedi Eschenbach zu empfindlich. Er wackelte und ruckelte herum wie ein alter Kuhschwanz. Und filmte dabei alles. Die Planken des Bodens, das Wasser des Außenpools, den schwarzen Wolkenhimmel. Bloß nicht Neptun und seine eigene Taufe.
Es blitzte. Der Steward mit den Gläsern schaute in den Himmel und rief Neptun etwas auf Norwegisch zu, woraufhin der Meeresgott die Verteilung seiner Gaben beschleunigte.
Als Nächster war der Schriftsteller dran. Ängstlich und zerbrechlich wirkte der blasse junge Mann, als er dem Laiendarsteller mit der Maske gegenüberstand. Als die Eiswürfel den Weg unter sein Hemd gefunden
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