Ahoi Polaroid
Stadt herumzustapfen. Sie wollten nicht die markanteste und modernste Kirche Norwegens besuchen, die Eismeerkathedrale. Sie interessierten sich nicht für das arktische Aquarium. Auch nicht für die Seilbahn Fjellheisen mit der die Touristen auf den Storsteinen gelangen, den Hausberg Tromsøs, der ihnen und allen Fotoapparaten der Welt ein einzigartiges Panorama bietet. Das Panorama von Deck 8, mit Blick auf den Hafen, reichte Plotek und Vinzi vollkommen aus. Sie wollten sich auch nicht durch die Anreize von Herlinde Vogler-Huth und Swantje Schmitz erweichen lassen. Die beide vollmundig damit lockten, sich sogleich in den Straßencafes von Tromsø in den Korbsesseln zu lümmeln und Latte macchiato zu schlürfen. Plotek hasste Latte macchiato. Für ihn war das nicht Fisch, nicht Fleisch. Kein Kaffee, auch keine Milch. Ein neumodisches Zwitterwesen, einzig und allein aus der fadenscheinigen Überlegung heraus entstanden, den ästhetischen Vorstellungen der Konsumenten gerecht zu werden. Plotek hatte sich überlegt, dass das Gesöff genau deswegen im Glas serviert wurde. Es wurde dadurch durchschaubar, so durchschaubar wie die Konsumenten. Meist junge, dynamische und frisch geduschte Vertreter der Mittelschicht, mit in den Haaren geparkten Ray-Ban-Brillen, die sich beim Konsum dieses Zwittergetränks selbstverliebt im Bildschirm ihrer Laptops betrachteten.
»Ihr könnt ja nachkommen«, sagte Swantje und verließ das Schiff, als wäre sie auf dem roten Teppich unterwegs zur Filmpremiere von Wickie und die starken Männer. Mit Herlinde Vogler-Huth samt Tochter im Schlepptau.
Plotek und Vinzi standen an der Reling, rauchten den Afghanen aus dem Rollstuhlgriff und sahen hinüber zum Hafen. Dort fielen die Passagiere über die Stadt her, wie die letzten Repräsentanten der Kolonialzeit, bewaffnet mit Spazierstöcken und künstlichen Hüftgelenken. Gedanklich waren die beiden hingegen ganz woanders. Auch bedingt durch das Rauschgift. Das manches klarer, anderes wiederum völlig vernebelt erscheinen ließ. Folge: Sie traten frustriert auf der Stelle. Soll heißen: Die Augen von Steffen Sailer setzten ihnen im Afghanennebel noch mehr zu als die Augen der anderen zuvor. Vielleicht auch deswegen, weil ihre Präsentation sie in einem unerwarteten Zusammenhang, bei der Polartaufe, völlig überrumpelt hatte. Ohne Polaroid. Und nicht anonym unter einer Servierhaube wie bisher, sondern quasi von einem leibhaftigen Meeresgott vor Hunderten von Zeugen überreicht. Zwar verdeckt, aber immerhin. Als wär’s eine Gottesgabe.
»Da ist sich jemand aber ganz sicher«, sagte Vinzi ganz in Gedanken. Er blies den Rauch des Joints weit von sich. Seine Beinstümpfe kribbelten wieder, als stünde das Unwetter erst noch bevor. »Irgendjemand spielt genüsslich ein für ihn vielleicht gar nicht so gefährliches Spiel und genießt dabei die Option auf unseren Schauer.« Vinzi schien sich, auch bedingt durch die Tüte in der Hand, langsam warm zu reden. Er nahm noch einen Zug, blies den Rauch über die Reling und reichte den Joint an Plotek weiter, wobei er hustete und sich dabei wie ein nasser Hund schüttelte. Plotek inhalierte und behielt den Rauch lange tief in der Lunge. Dann ließ er ihn in kleinen konzentrischen Kreisen aus dem Mund entweichen. Er sah den sich verformenden Rauchwölkchen hinterher und erkannte darin: Augen! Mit allem drum und dran: Glaskörper, Pupille, Linse, Hornhaut, Iris und alles. Aber nicht die Augen von Sailer. Auch nicht die von Augustin oder Kuhlbrodt. Nein, das waren eindeutig seine eigenen Augen. Die ihn jetzt skeptisch ansahen und sich dabei langsam im Rauch auflösten.
»Da hat jemand Spaß an der ganzen Sache«, stellte Vinzi nüchtern fest, während er an seinen Beinstümpfen rieb. Dann fasste er zusammen: »Augustin tot, Kuhlbrodt tot, Sailer tot«, wobei der Ton seiner Stimme an einen kurz bevorstehenden Weltuntergang erinnerte.
Der Rauch war verschwunden. Die Augen auch. Plotek gab die Tüte an Vinzi zurück. »Und kein Täter weit und breit!«
Dann schwiegen sie wieder eine Weile und arbeiteten weiter daran, den Afghanen in der Tüte klein zu kriegen. Dabei blickten sie am Schiffskörper entlang zum Hafen hinunter, wo die MS Finnmarken an den geöffneten Laderampen mit emsig ein und aus fahrenden Gabelstaplern beladen wurde. Paletten mit Waren und Gütern verschwanden im Bauch des Schiffes, auch Autos. Neben den Rampen hielt sich der blasse Schriftsteller auf und kritzelte nervös in sein Blöckchen.
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