Akte Mosel
handelte es sich, mit dem Nicole so gräßlich gequält wurde. Laut Obduktionsbefund waren die Stichverletzungen nicht tödlich. Gerade als er einen Ordner zur Hand nimmt, um einen Hinweis nachzulesen, hört er schrilles Schreien, begleitet von dumpfem Poltern.
Die Geräusche scheinen aus dem Haus zu kommen. Das sind wieder die von unten, denkt Walde. In der Wohnung unter ihm, im zweiten Stock, wohnt ein Ehepaar mit einer halbwüchsigen Tochter. Häufig sind in den letzten Monaten von dort lautstarke Dispute zu hören.
Der Krach nimmt zu. Walde vernimmt eine erregte, dunkle Stimme und dann lautes Schreien von einer Frau oder einem Mädchen. Es folgen dumpfe Schläge und, jetzt hört er es deutlich, jemand schreit verzweifelt um Hilfe. Barfuß rennt Walde durch die Diele, holt aus der Garderobenschublade den Pistolenhalter und reißt die Wohnungstür auf.
»Nein, hör’ auf, bitte«, hallt eine flehende Stimme durchs Treppenhaus.
»Zu spät«, schreit ein Mann mit sich überschlagender Stimme.
Wieder ertönen dumpfe Schläge.
Waldes nackte Füße verkrampfen auf den kalten Steinfliesen. Während er krummbeinig auf den Außenkanten die Treppe hinunterhastet, knöpft er das Halfter auf und zieht seine Dienstwaffe. Um ein Haar wäre er beim Entsichern der Pistole, bei dem er das Geländer loslassen muß, über seine krampfenden Füße gestolpert. Gerade noch fängt er sich ab und stößt mit der ungesicherten Waffe hart an den hölzernen Eckpfosten. Fehlte nur noch, daß sich ein Schuß löst. Auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstür lauscht er.
»Den noch … und den … und den!« schreit drinnen jemand, außer sich vor Wut. Den Schlägen folgt nur noch ein ersticktes Wimmern.
Hoffentlich komme ich nicht zu spät, denkt Walde, als er mit klopfendem Herzen den Schlüssel dreht, der außen in der Korridortür steckt. Vor ihm liegt die Diele. Die Wohnung hat offensichtlich den gleichen Grundriß wie seine. Geradeaus ist das Badezimmer, dessen Tür nur angelehnt ist. Er wendet sich nach links, wo abermals ein Schlag zu hören ist. Mit einem kräftigen Ruck reißt er die Wohnzimmertür auf und hastet mit einem Sprung, die schußbereite Waffe mit ausgestreckten Armen vor sich haltend, ins Zimmer.
»Schluß jetzt, Hände hoch, Polizei!« schreit er.
Vor ihm sitzen drei Personen am Wohnzimmertisch, eine mit nach vorn gebeugtem Kopf. Es ist die Ehefrau, ihr Mann hält mit gehobener Faust inne und schaut Walde mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an. Auf dem Tisch liegen Spielkarten in wildem Durcheinander. Die Tochter kreischt und preßt eine Hand auf den Mund.
»Nehmen Sie die Hände hoch!«, ruft Walde. »Schön ruhig, Hände über den Kopf!«
Jetzt dreht sich die Ehefrau um und schaut Walde entsetzt an. Im Gesicht sind keine Verletzungen zu sehen, nur Verblüffung.
Walde tritt näher an den Tisch, die Waffe im Anschlag auf den Ehemann, der beide Hände weit nach oben reißt und mit gepreßter Stimme stammelt:
»Nicht schießen, Herr Bock, nicht schießen!« Aus seiner Linken fallen Spielkarten zu Boden.
»Herr Bock, bitte«, die Ehefrau steht auf und kommt, die Arme nach vorn gestreckt, beschwichtigend auf Walde zu.
Waldes Blick schweift kurz durchs Zimmer. Bis auf den Tisch wirkt es aufgeräumt, keine Kampfspuren.
»Was ist denn los?« Walde läßt zögernd die Waffe sinken ohne den Mann aus den Augen zu lassen.
»Wir spielen Karten. Was tun Sie hier? Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?« Die Frau kommt um den Tisch und stellt sich zwischen Walde und ihren Mann, der zögernd die Arme sinken läßt.
»Karl, nimm doch endlich die Arme runter und tu was!« fordert sie.
Wo ist das Loch in den Holzdielen, in dem Walde jetzt augenblicklich verschwinden kann? Er erlebt exakt das, was früher, in seiner Jugend, in einem immer nach gleichem Muster ablaufenden Traum geschah. Er fuhr, im Schlafanzug in seinem Bett liegend, über die Straße zur Schule und schämte sich unsäglich, wenn die Passanten ihn vom Gehsteig aus anstarrten. Wie erleichtert war er jedesmal, wenn er endlich in seinem Zimmer erwachte!
Das hier ist schlimmer. Er hat nicht einmal einen Schlafanzug an, sondern nur eine Unterhose! So steht er hier im Wohnzimmer vor fremden Leuten, in deren Intimsphäre er eingedrungen ist, und die er obendrein vor ein paar Sekunden noch mit einer entsicherten Waffe bedroht hat. Diese hält er jetzt halb hinter seinem Oberschenkel verborgen. Am liebsten würde er sie in die Hose stecken, aber
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