Akte X
dass Sie die beiden FBI-Agenten sind, vor denen mich Ihr Büro in Manhattan gewarnt hat«, sagte eine heisere Stimme hinter dem verbogenen Regal. Gleich darauf trat eine stämmige Frau mit breiten, muskulösen Schultern in ihr Blickfeld. Sie war ziemlich groß, etwa einmeter-achtzig. Ihre mit Handschuhen verhüllten Hände hielten ein Klemmbrett, und um die glanzlosen blauen Augen unter ihrem krausen, dunklen Haar lagen tiefdunkle Ringe. »Detective Jennifer Barrett, NYPD.«
Scully übernahm die Vorstellung, wobei ihr der kraftvolle Händedruck der Frau auffiel. Das waren Pranken, keine Hände. Barrett überragte die zierliche, gerade ein-metersechzig große FBI-Agentin um Haupteslänge, und obgleich sie aussah, als ginge sie mit großen Schritten auf die Fünfzig zu, schien sie eine Menge Zeit im Fitneßcenter zuzubringen. Ihr ungekämmtes Haar und die derben Gesichtszüge verschlimmerten noch die Wirkung ihrer beinahe schon erschreckenden Ausmaße. Scully fragte sich, ob Barrett unter einer genetisch bedingten Fehlfunktion der Hypophyse leiden mochte; Mulders Miene verriet ihr, dass ihm ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen.
Scully durchbrach das Schweigen, bevor es peinlich werden konnte, und wandte sich nach einigen kurzen Höflichkeitsfloskeln dem Fall zu. »Wenn wir richtig verstanden haben, ist Perry Stanton der einzige Verdächtige in diesem Mordfall. Basiert diese Annahme auf forensischen Beweisen?«
Barrett nickte, wobei sie auf die beiden Männer in den Overalls deutete, die sich noch immer über die Matratze beugten. »Nach dem, was wir bis jetzt wissen, war Stanton allein mit der Schwester, als der Mord geschah. Nach der Aussage des plastischen Chirurgen, Dr. Alec Bernstein, waren sie kaum fünf Minuten bei geschlossener Tür in dem Zimmer, als es zu dem Gewaltakt kam. Haare, Fasern und Fingerabdrücke bestätigen Bernsteins Aussage. Durch die Tür hat niemand das Zimmer betreten, und das Fenster liegt mehr als sechs Meter über dem Parkplatz.«
»Ein ziemlich langer Weg hier herauf«, kommentierte Mulder, der neben der Tür in die Knie gegangen war. »Und ein ebenso langer Weg bis nach unten.«
Scully sah sich nach ihm um. Er hielt seine Hand vor die Einbuchtung in der Tür und ahmte den tiefen Abdruck aus einigen Zentimetern Entfernung mit den Fingern nach. Scully wandte sich wieder ab und sah zu, wie Barrett zu dem zerbrochenen Fenster ging. Dort zog sie eine Ecke des gelben Papiers hoch. »Der Weg nach unten ist leichter als der nach oben. Man muss nur richtig landen. Stanton hatte Glück und hat das Gestrüpp am Rand des Parkplatzes getroffen. Wir haben abgerissene Fetzen seines Krankenhauskittels in den Ästen gefunden und noch mehr von Teri Nestors Blut. Wir haben eine Großfahndung für den ganzen Bezirk eingeleitet, aber bisher konnten wir keine Spur von ihm finden.«
»Also ist dieser Professor nach der Operation aus der Narkose erwacht«, nuschelte Mulder, »hat ein Krankenzimmer verwüstet und einer Schwester den Schädel zertrümmert, ehe er aus dem Fenster im zweiten Stockwerk in ein Gebüsch gestürzt ist. Und trotzdem ist er immer noch in der Lage, einer Polizeifahndung zu entgehen?«
Mulders Frage war an Scully gerichtet, doch die roten Flecken, die sich über Barretts Gesicht ausbreiteten, zeigten deutlich, dass sie Mulders Worten eine andere Bedeutung beimaß, als er beabsichtigt hatte. Sie wandte sich vom Fenster ab, verschränkte die gewaltigen Arme vor der Brust und verzog die Lippen zu einem Ausdruck größten Mißfallens. Ein schwerer Brooklyn-Akzent verzerrte nun plötzlich ihre Aussprache. »Hey, wollen Sie vielleicht Ihre eigenen Leute auf den Fall ansetzen? Ich wäre froh, wenn es eine andere Erklärung gäbe. Wegen dieser Geschichte hängen mir jetzt schon die Presseleute am Arsch. Wir mussten die Autopsie zweimal durchführen lassen. Die Fingerabdruckspezialisten waren wenigstens ein Dutzend Mal hier, und trotzdem finden wir keine neue Spur. Ein Täter, eine tote Schwester, eine Fahndung. Es ist mir egal, für wie schlau ihr euch haltet, ihr werdet auch nichts Neues entdecken.«
Scully starrte die Frau an, verblüfft über ihren gänzlich veränderten Tonfall. Sie war nicht frustriert, sondern offenkundig feindselig. Anscheinend ließ sie sich nicht gern etwas sagen, und ihr Temperament entsprach uneingeschränkt ihrer beachtlichen Körpergröße, woraus sich nach Scullys Ansicht eine wenig erfreuliche Verbindung ergab, also beschloß sie zu intervenieren,
Weitere Kostenlose Bücher