Akte X
Labor war gründlich durchsucht, jeder Aktenschrank und jeder virtuelle Speicher auf Beweise abgeklopft worden, doch bis jetzt hatte sich keinerlei Zusammenhang mit Paladin oder seinen Experimenten ausfindig machen lassen. Es gab nichts, was Fibrol oder Julian Kyle aufgrund der Durchsuchung zur Last gelegt werden konnte, und es gab keinerlei Hinweise darauf, dass irgendein Mitarbeiter des Unternehmens schon vor dem Auftauchen der Beamten von Emile Paladins gefälschtem Totenschein gewusst hatte. Fibrols Direktorenkonsortium hatte während einer zwölf Stunden umfassenden Befragung nicht die geringste Täuschungsabsicht erkennen lassen, und auch über Kyles Aufenthaltsort schienen die Geschäftsführer des Unternehmens wirklich nichts zu wissen. Offenbar hatten Paladin und Kyle allein gearbeitet. Wenn sie sich - wie Mulder vermutete - aus einer Quelle des Verteidigungsministeriums finanziert hatten, so waren sämtliche schriftlichen Beweise längst vernichtet worden.
Dennoch war die Durchsuchung des Fibrol-Gebäudes keine reine Zeitverschwendung gewesen. In Julian Kyles Büro hatten die Beamten in einer verschlossenen Schreibtischschublade eine Telefonnummer ohne Namensangabe entdeckt. Die Nummer war bis zu einem Appartement in Chelsea zurückverfolgt worden, das bereits vor mindestens einer Woche verlassen worden war, doch die Spurensicherung hatte Haare und Hautpartikel im Abfluß der Dusche gefunden, die den Beweisstücken entsprachen, die in der Höhle am Fuße des See Dum Kao entdeckt worden waren.
Den DNA-Spuren zufolge hatte das Appartement Quo Tien, dem Sohn Emile Paladins, gehört. Nur zwanzig Minuten nach Beginn der Durchsuchung machten die Beamten eine verblüffende Entdeckung. Hinter einer aufklappbaren Fliese im Badezimmer des Appartements fanden sie eine Phiole mit einer klaren Flüssigkeit und zwei winzige Spezialspritzen. Scully konnte sie als Spritzen klassifizieren, von denen sie im New England Journal of Medicine in einem Artikel über Mikrochirurgie gelesen hatte: Diese Spritzen waren für interkapillare Einstiche im Zuge mikrochirurgischer Operationen gefertigt worden. Nach dieser Erkenntnis konnte es sie nicht mehr überraschen, dass die Flüssigkeit in der Phiole ein seltenes Virenmuster in einer gekühlten, basischen Lösung enthielt - die Durchsuchungsmannschaft hatte das Rätsel um den merkwürdig gezielten Ausbruch der Enzephalitis Lethargica aufgeklärt.
»Kyle ist längst weg«, setzte Mulder nach einem längeren Schweigen hinzu, während er und Scully auf die Rollbahn traten, um Skinner auf halbem Wege entgegenzukommen. »Und er hat Paladins Haut mitgenommen. Wir haben nur fünfundzwanzig unbekannte Soldaten, eine Reihe brutaler Morde, einen zumindest medizinisch entlasteten Perry Stanton - und natürlich ein Paar Stoßzähne. So betrachtet ist das ein passendes Ende für einen dreihundert Jahre alten Mythos.«
Scully vermied es, ihren Partner anzusehen. Mindestens ein Dutzend Mal hatten sie schon über diese Angelegenheit gesprochen. Die Stoßzähne waren gemeinsam mit ihrer Fallakte in die FBI-Zentrale gebracht worden, und die vorläufige Radiokarbonuntersuchung hatte ihr Alter auf etwa dreihundert Jahre festgelegt - eine Tatsache, die allein noch keine Schlüsse erlaubte. Vor ebenfalls dreihundert Jahren waren in dieser Gegend Thailands Elefanten und Wildschweine beheimatet gewesen, und obwohl die DNA-Analyse zu keinem Ergebnis geführt hatte, war es durchaus möglich, dass die Stoßzähne zu einem Elefanten oder einem Keiler gehörten, dessen Art inzwischen ausgestorben war.
»Vielleicht will Skinner uns deshalb sprechen«, sagte Scully in einem Anflug von Sarkasmus. Nur ein Dutzend Meter trennte sie noch von dem schnell näherkommenden Assistant Director. »Vielleicht will er die Stoßzähne einem Museum spenden. Oder noch besser, er verkauft sie, um unsere kleine Exkursion zu finanzieren.«
»Ich würde sie lieber in meinem Büro an die Wand hängen«, verkündete Mulder mit undurchdringlicher Miene. Dann zwinkerte er. »Zur Erinnerung an unsere romantische Reise nach Südostasien. Was halten Sie davon, Scully? Wir könnten uns das Paar teilen.«
»Danke«, entgegnete Scully mit einer Mischung aus Amüsement und Entsetzen, doch insgeheim froh, dass ihrem Partner schon wieder nach Scherzen zumute war. »Danke, Mulder, aber ich glaube, das ist doch eher Ihr Stil.«
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