Akte X
sich zusammengesunkene Mann stützte seinen fußballförmigen Kopf auf die Hände. Sein hagerer, zierlicher Körper wurde von einem dreckigen Kittel notdürftig bedeckt, dessen dünner, schmutziger Stoff zerrissen war und über und über gespickt mit etwas, das nach grünen Glassplittern aussah. Er zitterte, vermutlich eine Folge von Crack oder Heroin, und sein dünnes, zurückweichendes Haar glänzte schweißnaß. Während Susan ihn anblickte, bewegte der Mann den Kopf, und sie konnte sehen, dass sich seine Lippen bewegten und ein stetes, unverständliches Brabbeln hervorbrachten. Dann erhaschte sie einen kurzen Blick in seine Augen und bemerkte, dass sie blau waren, ähnlich wie ihre eigenen, vielleicht sogar azurblau.
Abgestoßen wandte sie sich ab. Der Mann hatte offensichtlich kein Zuhause. Sehr wahrscheinlich war er geistesgestört. Glücklicherweise konnte er mit seiner geringen Größe kaum irgendwelche Schwierigkeiten machen, dennoch war Susan froh, dass sie nicht neben ihm sitzen musste.
Dann berührte der Ellbogen sie erneut, und sie fluchte laut. Endlich nahm der spindeldürre Geschäftsmann Notiz von ihr, und er entschuldigte sich im schweren New Jersey-Dialekt. Er faltete den Prospekt zusammen und verstaute ihn sorgfältig zwischen seinen Knien. Als er eine Ecke anhob, um weiterzulesen, erblickte Susan ein Schwarzweißfoto auf der Rückseite des Magazins. Über dem Bild stand in großen Buchstaben die Überschrift: »Psycho-Professor durchstreift New York.«
In Susans Geist gab es ein leises Klicken, und sie sah von dem Magazin auf. Mit schärferem Blick betrachtete sie nun den zusammengesunkenen, kleinen Mann auf der Bank gegenüber. Als sie starren Blickes den zerrissenen weißen Kittel musterte, lief ein warmes Prickeln über ihren Rücken. Ganz langsam öffnete sich wie von selbst ihr Mund, als sie erkannte, dass es sich um einen Krankenhauskittel handeln musste.
Sie erinnerte sich an die Geschichte, die sie an diesem Morgen in den Nachrichten gehört hatte. Ein kleingewachsener Geschichtsprofessor hatte eine Krankenschwester ermordet und war aus einem Fenster im zweiten Stock gesprungen. Wenn sie auch nicht vollkommen sicher sein konnte, war es doch durchaus möglich, dass dieser Mann nun genau vor ihr saß.
Unruhig rutschte sie auf dem Sitz hin und her und fragte sich, ob sie irgend etwas tun sollte. Dann drang ein Geräusch an ihre Ohren - das Kreischen zupackender Bremsen. Sie hatten die nächste Station erreicht. Der Waggon ruckte heftig, und der kleine Mann blickte plötzlich auf. Susan sah ihm direkt in die Augen, und da wusste sie es. Das war der Psycho-Professor, und er sah sie an.
Ruckartig öffnete sich ihr Mund noch weiter, und ein unbeabsichtigter Schrei brach aus ihrer Kehle hervor. Während sein Körper wie unter Krämpfen hochzuckte-, schienen die Augen des Professors zu schrumpfen. Dann war er plötzlich auf den Beinen und kam in dem beengten Wagen direkt auf sie zu. Susan zuckte zurück, deutete mit dem Finger auf den Mann, während die anderen Passagiere die Vorgänge wie gelähmt verfolgten. Für einen entsetzlichen Augenblick der Erstarrung stand der Professor über ihr, die Hände neben dem Körper zu Fäusten geballt. Ruckartig hielt die Bahn an der nächsten Station, und ein gequälter Ausdruck huschte über sein Gesicht.
Als hätte er Susan völlig vergessen, drehte er sich um und stürzte auf die Tür zu. Sein Kopf wirbelte scheinbar haltlos durch die Luft, als er sich zwischen den Passagieren hindurchdrängte. Ein vierschrötiger Mann in einer hellen Jogginghose brüllte ihn an, er solle nicht drängeln - und purzelte gleich darauf zur Seite, als der winzige Professor ihn im Vorbeieilen von den Beinen riß. Nur eine Sekunde später war er schon draußen auf dem Bahnsteig.
Susan stürzte auf die andere Seite des Waggons und drückte die Nase an die Fensterscheibe. Sie sah, wie der Professor an einer Gruppe Schaulustiger vorbeiwirbelte, und dann entdeckte sie die drei Polizisten, die durch die Drehkreuze auf den Bahnsteig liefen. Ein Gefühl der Erleichterung erfaßte ihren ganzen Körper, als sie erkannte, dass dem Professor kein Fluchtweg mehr blieb.
Der kleine Mann blieb stehen und betrachtete die drei Polizisten, die sich auf ihn zu bewegten. Susan sah, dass sie alle bewaffnet waren - und dass sie Latexhandschuhe trugen. Um sie herum war Stille in den Waggon eingekehrt, nachdem sich auch die anderen Passagiere drängelnd und stoßend einen Platz am Fenster
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