Akte X
brachte Mulder vor. »Es gibt doch bestimmt einen humaneren Weg, ihn aufzuhalten.«
»Er ist ein Mörder«, zischte Barrett, »und ich habe nicht die Absicht, mich oder meine Mitarbeiter in Gefahr zu bringen. Wenn Sie sich mit diesem Stück Plastik für ausreichend bewaffnet halten, dann ist das Ihre Sache.«
Scully blickte auf die Betäubungswaffe in ihrer rechten Hand hinab. Mulder und sie hatten diese nicht tödlich wirkenden Waffen auf ihrem Weg zur U-Bahn-Station im Arsenal der New Yorker Außenstelle des FBI erhalten. Die Vorrichtungen waren etwa so groß wie ein Taschenbuch und wogen keine drei Pfund. Die gemaserte Kunststoffoberfläche fühlte sich durch die Latexhaut ihrer Handschuhe hindurch warm an.
»Ein Elektroschock ist genauso wirksam wie eine Kugel«, sagte Mulder. »Er kann einen dreihundert Pfund schweren Mann kampfunfähig machen, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen.«
»Ich weiß selbst, was im Bedienungshandbuch steht«, konterte Barrett aufgebracht. »Aber haben Sie schon einmal versucht, mit so einem Spielzeug einen Junkie im PCP-Wahn auszuschalten? Das ist etwa das gleiche, als wollten sie eine Klapperschlange mit einer Büroklammer abwehren.«
Scully räusperte sich. Aus ihrer Sicht war die ganze Diskussion überflüssig. Die anderen drei Polizisten waren mindestens zwanzig Meter vor ihnen, und sie alle trugen hochkalibrige Dienstwaffen. Barrett hatte sie vorausgeschickt, weil zwei von ihnen bereits hier unten gearbeitet hatten und das Tunnelsystem kannten. »Hoffen wir, dass wir die tödlichen Waffen nicht brauchen werden. Detective Barrett, wie lang ist die Tunnelstrecke bis zur nächsten Station?«
»Etwa eine halbe Meile«, entgegnete Barrett, die wieder vorauseilte. »Aber es gibt etliche Abzweigungen, die von der Hauptverbindungsstrecke fortführen. Wartungsschächte, Maschinenräume und Generatorengewölbe; genug Platz für Stanton, sich ein Versteck zu suchen. Ich habe an allen Ausgängen Polizisten postiert, aber wenn wir ihn nicht schnell finden, werden wir Suchtruppen mit Spürhunden anfordern müssen.«
Scully atmete tief durch, und die feuchte, schwere Luft legte sich erstickend auf ihre Atemwege. Sie konnte sich die Furcht und die Verwirrung vorstellen, die Stanton erleiden musste, während er durch die Dunkelheit flüchtete und sein Gehirn jedes Signal seines Nervensystems fehlinterpretierte. Seine psychotische Paranoia trieb ihn dazu, vor den Menschen wegzulaufen, die ihm helfen wollten.
Einige Minuten vergingen in völligem Schweigen, während sie sich weiter in den Tunnel hineintasteten.
Der Boden neben den Gleisen war uneben und mit einer dichten Schicht aus Schmutz und Schotter bedeckt. Große Steinbrocken ragten aus der grob verfliesten Fläche der gekrümmten Stahlbetonwände hervor.
Weiter vorn konnte Scully eine scharfe Linksbiegung erkennen. Unter einer orangefarbenen Notbeleuchtung stand einer der drei Polizisten. Er winkte ihnen zu, sich zu beeilen, und Scully beschleunigte ihre Schritte. Sie folgte den Gleisen über eine sanfte Steigung und fand sich gleich darauf an einer Kreuzung zweier Schächte wieder. Die Gleise führten weiter nach links in einen besser beleuchteten Tunnelabschnitt hinein. Der andere Schacht, dessen Wände aussahen, als wären sie aus grob behauenem Kalkstein gefertigt, lag in tiefer Dunkelheit.
»Das ist eine neue Strecke«, erklärte der Polizist. Er war ein wenig übergewichtig. Schweiß lief in kleinen Rinnsalen an den Seiten seines rotangelaufenen Gesichts hinunter. »Ist noch im Bau. Leary hat den Flüchtigen etwa dreißig Meter voraus entdeckt. Er und Kenyon sind ihm gefolgt.«
Scully richtete ihre Taschenlampe in die Schwärze des Schachts. Begierig verschluckte die Finsternis den orangefarbenen Lichtstrahl schon nach wenigen Metern. Sie sah abwechselnd Mulder und Barrett an. Dieser noch im Bau befindliche Tunnel war ein riskanter Ort, um den Träger einer seltenen und gefährlichen Krankheit zu verfolgen. Sie überlegte, ob sie Barrett bitten sollte, Verstärkung anzufordern, als ein krachendes Donnern von den Kalksteinwänden widerhallte.
Scullys Magen verkrampfte sich, als ihr bewusst wurde, dass dies die nachhallende Meldung einer Neun-Milimeter-Polizeiwaffe war. Sie sah, wie Mulder voranstürzte, und beeilte sich, ihm zu folgen. Hinter sich konnte sie Barrett und den übergewichtigen Polizisten hören, doch sie vertrieb beide aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf den in der Finsternis kaum erkennbaren
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