Akunin, Boris - Pelagia 01
lange, manchmal bis zu einer halben Stunde, unverwandt auf die Fenster, hinter denen Bubenzow wohnte. Diese ihre Gepflogenheit hatte sich herumgesprochen, und wenn die Stunde herankam, sammelte sich bei der Umfriedung bereits eine kleine Menschenmenge, die das wunderliche Fräulein begaffte. Zwar hatte nie jemand gesehen, dass sich die Tür geöffnet und der Inspektor die Fürstin hereingebeten hätte, aber diese Unzugänglichkeit machte die Situation noch skandalöser.
Am Tag vor dem Gedenken an die Enthauptung Johannes des Täufers roch es in der Stadt nach einem neuen Skandal, obwohl noch ungewiss war, worin der bestehen würde. Der Geruch aber war intensiv und untrüglich. Und die Gerüchte weckten größte Hoffnungen.
Es stand ein Ereignis ins Haus, das für Sawolshsk selten, um nicht zu sagen, erstmalig war – eine öffentliche Bilderausstellung, doch es handelte sich nicht um Gymnasiastenzeichnungen oder kleine Aquarelle, wie sie von den Mitgliedern der Gesellschaft »Beamtenfrauen für Sittsamkeit« getuscht wurden, sondern um Photographien des berühmten hauptstädtischen Künstlers Arkadi Sergejewitsch Poggio.
Die Vernissage für geladene Gäste – mit Champagner und Häppchen – war für den traurigen Gedenktag anberaumt worden, der bekanntlich strengste Einhaltung der Fastenregeln verlangt. Allein schon dies wurde als Provokation empfunden. Noch auffälliger war die viel sagende Geheimniskrämerei, mit der die Schirmherrin der Ausstellung, Olimpiada Schestago, die Einladungen an einen kleinen Kreis von Freunden und Bekannten verschickte. Es wurde gemunkelt, den wenigen Glücklichen solle etwas ganz Besonderes gezeigt werden, und die Befürchtung ging um, man werde nach der Vernissage das Interessanteste gar nicht zu sehen bekommen, ja, vielleicht werde die öffentliche Ausstellung abgesagt.
Die Postmeistersgattin badete in den Wellen der allgemeinen Aufregung. Sie hatte noch nie so viele Einladungen zu Soireen, Namenstagen und Jours fixes gleichzeitig erhalten. Sie nahm nicht alle wahr, sondern wählte sorgfältig aus und spannte alle auf die Folter, und wenn sie direkt um eine Einladung gebeten wurde, antwortete sie, der Raum sei zu klein, und der Künstler wolle nicht zu viele Besucher haben, da seine Arbeiten dann schlecht zu sehen seien. Am Tag nach der Vernissage herzlich gern.
Endlich war der bedeutsame Abend angebrochen.
Die Ausstellung befand sich in einem einzeln stehenden Seitenflügel des Postmeisterhauses mit Eingang von der Straße her. Hier wohnte Arkadi Poggio schon einen Monat, seit er aus dem Gut Drosdowka weggezogen war. Das hatte er aus nicht recht ersichtlichen Gründen getan, denn auffälligen Zwist zwischen ihm und den Gutsbewohnern hatte es nicht gegeben, doch scharfsichtige Beobachterinnen hatten wahrgenommen, dass sein Auszug zeitlich zusammenfiel mit der Emigration der Fürstin Naina. Im Erdgeschoss der Wohnung befand sich ein geräumiger Salon, in dem die Ausstellung untergebracht war, und davor ein Besuchszimmer. Der erste Stock hatte zwei Zimmer: In dem einen schlief Poggio, und in dem anderen, dicht mit Stores verhängt, hatte er sein Photolabor eingerichtet.
Die geladenen Gäste kamen nicht alle auf einmal, sondern nach und nach, darum wurde die Umsicht der Hausfrau, die im Vorraum einen Tisch mit Imbisshäppchen aufgebaut hatte, gebührend gewürdigt.
Fast als Erste kamen Stepan Schirjajew und Pjotr Telianow, was die Mutmaßungen über einen Zwist zwischen Poggio und den Gutsbewohnern endgültig widerlegte. Schirjajew war blass und verkrampft, als argwöhnte er in der Ausstellung etwas für ihn Unangenehmes. Dafür gab sich sein junger Begleiter fröhlich, machte Scherze und trachtete danach, heimlich die Nase in den verschlossenen Salon zu stecken, so dass Olimpiada auf den Schelm ein besonderes Auge haben musste.
Von Seiten des Künstlers waren überdies geladen: Donat Sytnikow und Kirill Krasnow. Die Generalswitwe Tatistschewa war zwar von ihrem Leiden genesen, hatte aber noch nicht wieder das Gut verlassen, und wenn sie eine Ausfahrt unternommen hätte, würde sie kaum die Ausstellung des ungeliebten »Knipsers« mit ihrem Besuch beehrt haben (so nannte sie Poggio nach dem Geräusch seines Photoapparats).
Von Seiten der Hausfrau waren mehr Gäste geladen: Bubenzow mit seinem Sekretär, der Adelsmarschall Graf Gawriil Alexandrowitsch (diesmal mit Gattin), ein paar besonders vertraute und verlässliche liberale Freunde und schließlich eine gewisse Polina
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