Akunin, Boris - Pelagia 01
dass sie zu haben sei. Durch einen Blick, durch ein plötzliches Erröten oder durch einen verflixten Geruch. Am unangenehmsten war, dass die Nonne sich in der Rolle der leichtsinnigen Madame Lissizyna wie ein Fisch im Wasser fühlte und ihre sonstige Unbeholfenheit sonderbarerweise verschwand. Ihr Benehmen wurde sicherer, ihre Bewegungen graziöser, und ihre Hüften schwangen verräterisch, so dass die Männer sich nach ihr umdrehten. Nach jedem derartigen Rollenwechsel musste sie mehr als tausend Verneigungen verrichten und hundertmal zur Mutter Gottes beten, um zur gottgefälligen Ruhe zurückzufinden.
Diesmal hatte Pelagia sich die Sünde wohl vergeblich auf die Seele geladen. In den zwei Wochen, in denen sie auf Soireen, Diners und Bällen glänzte, hatte sie nicht viel Nützliches herausfinden können. Bubenzow besuchte Naina nicht, sie ihn auch nicht. Wenn sie sich irgendwo trafen, dann heimlich. Doch das war unwahrscheinlich, da Naina Telianowa täglich demonstrativ zu dem Hotel fuhr. Einmal schaute Pelagia mit der Postmeistersgattin bei Bubenzow vorbei und sah auf dem Tisch einen Umschlag, auf dem unten schräg die Buchstaben NT standen, aber der Brief war nicht entsiegelt und lag dort allem Anschein nach schon seit Tagen.
Etwas erfolgreicher waren Pelagias Recherchen in der Syten-Angelegenheit.
Ein interessanter Umstand ergab sich aus einem Gespräch mit dem Pathologen Wiesel, einem Protege der barmherzigen Frau Grabbe. Bubenzow nämlich hatte von der unheilschweren Waldlichtung, auf der mutmaßlich der blutgierige Schischiga angebetet wurde, Bodenproben mitgebracht, die von einer blutartigen Flüssigkeit durchtränkt waren, und den Auftrag, diese Proben zu analysieren, hatte Wiesel erhalten. Die Laboruntersuchung ergab, dass es in der Tat Blut war, doch nicht Menschen-, sondern Elchblut, und das wurde dem Polizeimeister Lagrange gemeldet. Aber diese wichtige Information gelangte der Presse und der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis.
Der Gendarmerie-Rittmeister Prischibjakin, aus Petersburg abkommandiert, um die Außerordentliche Kommission zu unterstützen, erzählte Polina Lissizyna, ihr heiß ins Ohr atmend und sie mit dem gewichsten Schnurrbart kitzelnd, unter dem Siegel der Verschwiegenheit von getrockneten Menschenköpfen, die bei dem Schamanen der Syten gefunden worden wären, und versprach, sie der jungen Witwe zu zeigen, wenn sie ihn im Hotel besuchen käme. Frau Lissizyna glaubte ihm und kam – und? Getrocknete Köpfe hatte Prischibjakin nicht vorzuweisen, statt dessen ließ er einen Champagnerkorken knallen und trachtete, sie zu umarmen. Sie musste ihm, gleichsam aus Ungeschicklichkeit, den Ellbogen in die Leisten rammen, was den einfallsreichen Rittmeister blass und schweigsam machte, er stöhnte nur und folgte der entflatternden Besucherin mit leidendem Blick.
Mit dem Untersuchungsführer Borissenko, ebenfalls von der Außerordentlichen Kommission, hatte sie mehr Glück. Auf dem Ball im Adelsklub spreizte er sich vor der wissbegierigen reizvollen Frau und erzählte ihr, die verhafteten Syten seien stur und wollten keine wahrheitsgemäßen Aussagen machen, die anderen aber, die von Schischiga und Menschenopfern erzählten, verwickelten sich immerfort in Widersprüche, so dass die Protokolle hinterher umgeschrieben werden müssten.
All das war beachtenswert, doch es setzte die »Sawolshsker Partei« nicht in den Stand, die Invasion aus Petersburg mit einem entschlossenen Gegenangriff zu beantworten. Darum hatte Frau Lissizyna der Eröffnung der Photoausstellung solche Bedeutung beigemessen: Es schien einen Bezug zu den Ereignissen in Drosdowka zu geben, und diesmal konnte sich vielleicht etwas klären. Womöglich war das die geheimnisvolle Bedrohung, mit der Arkadi Poggio die Fürstin Naina einzuschüchtern versucht hatte? Überdies würde auch Bubenzow dort sein. Also musste Frau Lissizyna unbedingt zu einer Einladung für die Vernissage kommen, was ihr dank ihrem Einfallsreichtum auch gelungen war.
Am Tag vor der Soiree geriet sie in ernsthafte Bedrängnis, da die Einladung den Damen ein »dekolletiertes Abendkleid« vorschrieb. Bisher hatte sie sogar auf Bällen Schultern, Brust und Rücken mit einem Gazeschleier bedeckt, was die Modenärrinnen in der Stadt für den letzten Moskauer Chic hielten und nachmachten. Aber die Kleidervorschriften der Gastgeberin zu ignorieren wäre einem Affront gleichgekommen, der besonders spürbar gewesen wäre, da die Moskauerin nachgerade die einzige
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