Akunin, Boris - Pelagia 01
Gouvernements in Unruhe und Verwirrung, und sie hatten triftige Gründe dafür, aber wahr ist auch, dass für unsere Sawolshsker Gesellschaft das Leben noch nie so spannend war wie in diesen August – und Septembertagen.
Dabei ging es nicht nur um die politische und religiöse Erschütterung, die unsere Region binnen weniger Tage in ganz Russland berühmt machte. Derartige Ereignisse sind geeignet, die Gemüter zu bewegen, aber ein besonderer Nervenkitzel geht von ihnen nicht aus, und doch war bei uns gerade nervliche Erregung zu beobachten – jene besondere Erregung, die nur überspannte und vor Neugier vibrierende Frauen bewirken können. Denn der wichtigste Nerv der Gesellschaft definiert sich bekanntlich durch die Stimmung der Vertreterinnen des schwachen Geschlechts. Wenn sie sich langweilen und Trübsal blasen, wird in der Welt alles klein, dürr und grau. Wenn sie hingegen, von Erregung gepackt, den Schlaf abschütteln, beschleunigt das Leben sofort seinen Puls, erblüht, füllt sich mit Tönen und Farben. In den Hauptstädten befinden sich die Damen fast ständig in der bebenden Ekstase, einem großen Ereignis beizuwohnen, oder im Vorgeschmack dieses beseligenden Zustands, was auch erklärt, warum sich die Frauen ewig danach reißen, aus der Provinz wegzukommen nach Petersburg oder zur Not nach Moskau, in den Lärm, die Lichter und den schimmernden Glanz eines nie endenden Festes. In der Abgeschiedenheit hingegen verfallen die Damen von der Stille und Langeweile in Hysterie und Melancholie, doch umso ungestümer kochen die aufgestauten Gefühle hoch, wenn das Wunder geschieht und über den gähnenslangweiligen heimischen Penaten plötzlich die Sonne eines wirklichen Skandals erstrahlt. Dann haben die Damen Dramatik und Leidenschaften und süßes Getratsche – noch dazu ganz aus der Nähe, und sie stehen fast mit auf der Bühne und müssen nicht vom vierten Rang aus durch die Lorgnette gucken wie in den Hauptstädten.
Im Mittelpunkt dieses spannenden Lebens, zu dessen Arena seit einiger Zeit das stille Sawolshsk geworden war, stand natürlich Wladimir Lwowitsch Bubenzow, der einstige Sünder und jetzige Held, das heißt, eine Figur, die für das Herz der Frauen hochgefährlich war. Die Beziehungen des Synodalemissärs zu der Gouverneursgattin Ljudmila Platonowna, zu der Postmeistersgattin Olimpiada Schestago und noch einigen Löwinnen von örtlicher Bedeutung wurden zum wichtigsten Gesprächsthema in unseren Salons. Über die Art dieser Beziehungen wurden die unterschiedlichsten Meinungen geäußert, von barmherzig bis anzüglich, und es sei zugegeben, dass Letztere deutlich überwogen.
Eine weitere, fast ebenso pikante Quelle für Gerede war Naina Georgijewna Telianowa. Nachdem sie das Gut ihrer Großmutter verlassen hatte und nach Sawolshsk gezogen war, zeigte sie nicht die geringste Neigung, weiter in andere Regionen zu fliehen, das heißt, es war genauso gekommen, wie es die scharfsinnige Schwester Pelagia vorhergesagt hatte. Alle Welt wusste natürlich, was für eine böse Rolle sie in der Sache mit den unglücklichen Hunden gespielt hatte, und kaum jemand wollte noch mit der verrückten Fürstin zu tun haben, doch die allgemeine Ablehnung focht das energische Fräulein überhaupt nicht an. Es zeigte sich, dass die von Schwester Pelagia seinerzeit geäußerten Befürchtungen hinsichtlich der ärmlichen Lage, in die Naina geraten würde, wenn ihr das Erbe ihrer Großmutter entzogen wäre, gänzlich unbegründet waren. Neben der prächtigen kleinen Villa besaß Naina auch eigenes Kapital, Erbteil von einem entfernten Onkel. Das war weiß Gott kein Reichtum, reichte aber hin, um sich ein Stubenmädchen zu halten und sich nach der neuesten Mode zu kleiden. Naina zeigte sich ganz ungeniert in der Öffentlichkeit und führte sich überhaupt so auf, dass sie mit ihren Extravaganzen zeitweilig sogar die missionarischen und amourösen Großtaten Bubenzows in den Schatten stellte.
Allein schon die täglichen abendlichen Ausfahrten des überdrehten Fräuleins auf dem Petersburger Boulevard, den Champs-Élysees von Sawolshsk!
Angetan mit einem die Sinne betörenden Kleid (jedes Mal einem neuen) und einem überbreiten befiederten Hut, in der Hand einen durchschimmernden Sonnenschirm, fuhr Naina in der Kutsche gemächlich die Esplanade entlang, musterte herausfordernd die ihr entgegenkommenden Damen und befahl dem Kutscher, auf dem Kirchplatz vor dem Gasthof »Zum Großfürsten« zu halten. Hier blickte sie
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