Akunin, Boris - Pelagia 01
Andrejewna Lissizyna, die erst vor kurzem aus Moskau zugereist war und schon mit allen Größen der Sawolshsker Gesellschaft Freundschaft geschlossen hatte. Olimpiadas Gatte war von der Teilnahme an der Soiree ausgeschlossen worden, da er sich nichts aus Kunst machte und nicht mit Bubenzow Zusammentreffen sollte.
Alle waren schon versammelt, und jeden Moment musste die Hauptperson eintreffen – Wladimir Bubenzow, der von Staatsangelegenheiten aufgehalten wurde, sein Kommen aber verbindlich zugesagt hatte. Die Gäste hatten schon tüchtig dem Champagner zugesprochen, sie beäugten mit wachsender Neugier den Urheber der Festlichkeit. Poggio ging von einer Gruppe zur nächsten, scherzte fortwährend, wischte sich mit einem Taschentuch die Hände und blickte immer wieder ungeduldig zur Tür, wohl um in Gedanken den Verspäteten zur Eile zu treiben.
Nun näherte er sich der Moskauerin, um die sich einer der örtlichen Fortschrittler bemühte, und rief übertrieben lebhaft:
»Nein, Polina Andrejewna, Sie müssen mir unbedingt erlauben, Sie zu porträtieren! Je länger ich Ihr Gesicht anschaue, desto interessanter finde ich es. Noch wunderbarer wäre, wenn Sie Ihre Schwester überreden könnten, sich zusammen mit Ihnen abbilden zu lassen. Es ist geradezu verblüffend, wie verschieden Gesichtszüge sein können, die alle Merkmale familiärer Ähnlichkeit aufweisen!«
Lissizyna lächelte, ihre braunen Augen blitzten, aber sie sagte nichts.
»Seien Sie mir nicht gram, Polina, aber solch ein Doppelporträt würde aufs anschaulichste allen demonstrieren, wie verbrecherisch Frauen, die sich von der Welt zurückziehen, an sich selbst handeln. Ihre Schwester Pelagia ist eine graue Maus, Sie sind eine feurige Löwin. Sie gleicht dem trüben Mond, Sie gleichen der blendenden Sonne. Nase, Brauen, Augen sind bei beiden gleich gezeichnet, aber niemals würde jemand Sie mit Ihrer Schwester verwechseln. Sie ist wohl wesentlich älter als Sie?«
»Ist das ein Kompliment oder der Wunsch, mein Alter zu erfahren?«, Lissizyna lachte hellauf und zeigte dabei gleichmäßige weiße Zähne. Sie schlug Poggio scherzhaft mit dem schwarzen Fächer aus Straußenfedern auf den Arm. »Und wagen Sie nicht, in meiner Gegenwart Pelagia schlecht zu machen. Wir sehen uns so selten! In früheren Zeiten hat sie mich manchmal in Moskau besucht, doch sie wurde in ein fernes Kloster geschickt.«
Sie schwenkte ihr Rachewerkzeug, um sich Luft auf die entblößten Schultern zu fächeln, die allerliebst mit apfelsinenfarbenen Sommersprossen gesprenkelt waren, schüttelte die üppigen rotblonden Locken und blickte mit eingekniffenen Augen zur Uhr.
»Sind Sie kurzsichtig?«, fragte der scharfsichtige Poggio. »Es ist zwanzig nach acht.«
»Kurzsichtigkeit liegt bei uns in der Familie«, gestand Polina und lächelte entwaffnend. »Aber ich mag keine Brille tragen.«
»Sie wäre Ihnen nicht abträglich«, versicherte Poggio galant. »Also, wie ist es mit dem Porträt?«
»Um nichts in der Welt! Womöglich wollen Sie das Bild ausstellen.« Polina verfiel in verschwörerisches Flüstern. »Was haben Sie da für eine Überraschung, na? Womöglich gar was Unanständiges?«
Poggio lächelte ein wenig gequält und gab keine Antwort. Die rothaarige Zauberin sah ihn von unten herauf prüfend an, die runde Stirn gekraust, und schien eine Denkaufgabe lösen zu wollen.
Ach, was soll ich den Leser an der Nase herumführen, zumal er schon längst alles erraten hat.
Vor dem nervösen Künstler stand (im dekolletierten Samtkleid, mit weißen Handschuhen bis zum Ellbogen, das Gesicht eingerahmt von kunstvoll gedrehten kupferroten Locken) nicht Polina Andrejewna Lissizyna, sondern . . .
Das heißt nicht, dass sie überhaupt nicht Polina gewesen wäre, denn früher einmal hatte sie in der Tat so geheißen, aber dann hatte sie den Vor – und Vatersnamen abgelegt und sich einfach Pelagia genannt.
Um zu verstehen, wie es zu der unglaublichen, ja, lästerlichen Verwandlung der Nonne in eine mondäne Dame gekommen war, müssen wir zwei Wochen zurückgehen.
Damals erlebte der Sommer seine letzten Tage, flussaufwärts fuhren Lastkähne mit Melonen aus Astrachan und Zarizyn, und Bischof Mitrofani hatte soeben seinen »Rat in Fili« abgehalten.
»Hier liegt eine Gefahr nicht nur für mich und den Gouverneur. Das wäre halb so schlimm, ja, viertel so schlimm. Aber unsere ganze Ordnung ist bedroht. Als Hirt darf ich nicht die Hände in den Schoß legen, wenn eine gierige Bestie
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