Akunin, Boris - Pelagia 01
schritt die Fürstin Telianowa majestätisch an ihm vorüber, wobei sie ihn mit der Schulter streifte, und verschwand im Vorzimmer. Offenbar hatte sie doch gelernt, gemessen von der Bühne abzugehen.
»Ein eisernes Fräulein«, sagte Sytnikow begeistert. »Ich weiß ja nicht, um wessen Schulden es geht, aber an dessen Stelle möchte ich nicht sein.«
»Tja«, brummte Berditschewski. »Und Schirjajew werden wir freilassen müssen, Felix Stanislawowitsch.«
Der Polizeimeister murmelte:
»Das ist nicht gesagt. Verhören werden wir ihn unbedingt, auch die Fürstin und das Zimmermädchen. Eine verbrecherische Absprache ist denkbar. Von einer so hysterischen und unanständigen Person kann man auf alle möglichen Exzesse gefasst sein.«
Aber ihm hörte niemand mehr zu. Die Teilnehmer des Experiments waren einer nach dem anderen gegangen.
Polina Lissizyna kehrte voller Sorgen in ihre Wohnung bei der Obristenwitwe zurück. Die ehrenwerte Antonina Iwanowna hatte sich gleich nach dem Abendessen zur Ruhe begeben und lag zu dieser späten Stunde schon in süßen Träumen, und Polina war froh, nicht mit Gesprächen und Befragungen behelligt zu werden.
In ihrem Zimmer zog sie sich rasch aus, legte dann aber kein Nachtgewand an, wie zu erwarten, sondern entnahm ihrer Reisetasche die schwarze Kutte und verwandelte sich blitzgeschwind in die demütige Schwester Pelagia. Auf leisen Sohlen durchquerte sie den Korridor und schlüpfte durch die Küche hinaus auf die Straße.
Die winddurchwehte Neumondnacht nahm die Klosterschwester willig in ihre schwarze Umarmung, und Pelagia huschte, ein kaum erkennbarer Schatten, an den schlafenden Häusern entlang.
Vom Standpunkt Pelagias war das »Untersuchungsexperiment« des Polizeimeisters sehr nützlich gewesen, so nützlich, dass es dringend notwendig geworden war, unter vier Augen mit Naina Telianowa zu reden, jetzt gleich, ohne den nächsten Tag abzuwarten. Die rätselhafte Photographie mit dem Titel »Ein regnerischer Morgen« war Polina Lissizynas Gedächtnis gänzlich entschwunden, und doch gab ihr Gespür ihr ein, dass genau dort der Schlüssel zu der hässlichen Geschichte zu finden sein konnte. Natürlich wäre es einfacher gewesen, gleich nach dem Untersuchungsexperiment in der Maske der Madame Lissizyna direkt die Fürstin aufzusuchen, aber anständige Damen fuhren nicht allein durch die nächtliche Stadt und gingen erst recht nicht zu Fuß, das wäre zu auffällig gewesen, doch auf die bescheidene Nonne achtete niemand.
Sie hatte ein ganzes Stück zu gehen, bis zum Flussufer, wo das alte Haus stand, das die Fürstin Telianowa geerbt hatte. Mitternacht rückte näher. Um diese Zeit schliefen in Sawolshsk nur die Verliebten nicht – und die Wachposten (die schliefen übrigens auch, wenngleich in ihrem Schilderhaus), darum begegnete der Nonne unterwegs keine Menschenseele.
Einen seltsamen Anblick bietet unsere friedliche Stadt in einer trüben Herbstnacht. Es ist, als wäre die ganze Einwohnerschaft auf den Wink einer geheimnisvollen Kraft in weite Fernen entschwunden, und geblieben wären nur die dunklen Häuser mit den schwarzen Fenstern, die niederbrennenden Laternen und die sinnlosen Glockentürme mit den verwaisten Kreuzen. Und wenn einen schlaflosen Menschen aus Nervenschwäche der Grusel überkommt, kann er leicht auf die Vorstellung verfallen, dass in der Nacht in Sawolshsk die Macht gewechselt hat und bis zum Morgen, der Sonne und Licht zurückbringt, hier die Kräfte der Finsternis regieren, von denen jedwede Niedertracht und Schlechtigkeit zu erwarten ist.
Scheußlich war es in der Stadt. Menschenleer, ohne Leben, unheildrohend.
Nacht. Fluss
Als Pelagia in die Warrawkin-Gasse einbog, die zum Hause der Fürstin führte, zuckte über den Himmel ein lautloses – und dadurch noch erschreckenderes – blendend grelles Wetterleuchten, und danach erschien die Dunkelheit so dicht, dass die Nonne unwillkürlich stehen blieb, da sie die Umrisse der Häuser nicht mehr erkennen konnte. Als sie sich ein wenig gewöhnt hatte, machte sie ein paar Schritte, und abermals ein weißes Aufflammen, und abermals musste sie die Augen zukneifen und warten. Und jetzt drang aus weiter Ferne ein langsam grollender Donner.
Und so ging es weiter: ein, zwei Dutzend Schritte durch die tiefe Finsternis, dann das satanische Aufzucken des grellen Lichts und wieder die Schwärze, angefüllt mit dem dumpfen Brüllen des auf die Stadt zurasenden Sturms.
Das Haus zu finden war nicht schwer. Der
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