Akunin, Boris - Pelagia 01
getan?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Da war Lärm. Ich habe gerufen, Dunjascha war still. Ich wollte nachsehen – ein Schlag. Dann nichts mehr. Später habe ich aus weiter Ferne eine Frauenstimme gehört, die rief: › Naina Georgijewna! ‹ Niemand da. Dunkel. Ich dachte: Wo bin ich, was ist mit mir . . .« Ihre Mundwinkel zuckten, sie wollte wohl lächeln. »Es ist gut, dass ich sterbe. Das Beste, was passieren kann. Und dass Sie hier sind, ist ein Zeichen, ein Gotteswunder. ER vergibt mir. Ich bin schuldig vor ihm. Ich schaff’s nicht mehr, alles zu erzählen, es verschwimmt. Vergeben Sie mir einfach meine Sünden. Dass Sie kein Priester sind, macht nichts, Sie sind eine geistliche Person.«
Pelagia, mit den Zähnen klappernd, sprach die vorgeschriebenen Worte:
»Gleichwie die Regentropfen im Sommer, so schwinden mählich meine schlimmen und niederen Tage, errette mich, Mutter Gottes . . .«
Naina Telianowa sagte: »Erbarme dich, erbarme dich . . .«, aber immer leiser. Ihre Kräfte ließen unerbittlich nach. Als die Nonne das Gebet beendet hatte, konnte die Fürstin nicht mehr sprechen und lächelte nur schwach.
Pelagia beugte sich über sie und fragte:
»Was war auf dem Photo? Mit dem regnerischen Morgen?«
Es schien, dass die Antwort ausbleiben würde. Aber nach einer Weile regten sich die blassen Lippen:
»Eine Espe . . .«
»Was für eine?«
»Eine le-ben-dige. Und eine Hacke.«
»Wer ist lebendig? Was für eine Hacke?«
Hinter Pelagia knarrte der Fußboden, nicht so leise wie vorhin, sondern sehr vernehmlich, wie unter einem schweren Fuß.
Pelagia fuhr herum und schrie auf. Aus dem dunklen Schlafzimmer erschien langsam, wie unwirklich, wie in einem Alptraum, eine schwarze Silhouette.
»Aah!«, schrie die Nonne und ließ die Kerze fallen, die sofort erlosch.
Das rettete ihr das Leben. In der tiefschwarzen Finsternis waren rasche Schritte zu hören, und über den Kopf der hingekauerten Nonne hinweg pfiff, ihre Stirn mit einem Luftzug streifend, etwas Schweres.
Die Nonne hastete gebückt in den Salon. Hier war es auch stockfinster, nur die drei grauen Rechtecke der Fenster zeichneten sich undeutlich ab. Von hinten hörte Pelagia einen keuchenden Atem und das Scharren von Schuhen auf dem gebohnerten Fußboden. Pelagia und ihr Verfolger konnten einander nicht sehen. Aus Furcht, sich durch ein Geräusch zu verraten, blieb sie reglos stehen und starrte in die Dunkelheit. Poch-poch-poch, hämmerte ihr armes Herz, und dieser Trommelwirbel – so schien es Pelagia – erfüllte den ganzen Salon.
Jemand bewegte sich in der Dunkelheit, kam aus dem Korridor näher. Die Finsternis pfiff: ssst! Und noch einmal, schon näher: ssst!
Pelagia begriff: Der Mann schlug mit einem Knüppel, oder was er da hatte, aufs Geratewohl zu. Sie musste weg. Also stürzte sie zu dem mittleren grauen Rechteck. Dabei warf sie einen Stuhl um, verwünschte ihr ewiges Ungeschick, hielt sich aber auf den Füßen. Dafür stolperte der Verfolger, der hinter ihr hertrampelte, über den Stuhl und polterte zu Boden. Ein anderer würde aufgeschrien oder geflucht haben, doch dieser gab keinen Laut von sich.
Pelagia stieg aufs Fensterbrett, blieb aber mit der Kutte an einem Vorsprung hängen. Sie zog aus Leibeskräften, doch das derbe Gewebe gab nicht nach. Eine kräftige Hand packte die Nonne von hinten am Kragen, und diese Berührung schien ihre Kräfte zu verzehnfachen. Sie zerrte mit aller Gewalt, und da riss die Kutte am Saum und am Kragen – und Gott der Herr errettete sie, sie sprang nach draußen. Ob sie sich wehgetan hatte, wusste sie nicht. Sie spähte nach rechts und links.
Rechts waren die Pforte und die Straße. Dorthin durfte sie nicht. Bis sie die Pforte geöffnet hatte, würde er sie einholen. Und selbst wenn es ihr gelang, die Straße zu erreichen, würde sie in der Kutte nicht entkommen.
Dieser Gedanke durchzuckte ihr Gehirn, und schon rannte sie nach links, hinter die Hausecke.
Von oben prasselte urplötzlich ein Sturzregen nieder, so dicht, dass Pelagia sich fast verschluckt hätte. Nun war überhaupt nichts mehr zu sehen. Sie lief durch den Garten, durch den Hain, die Hände vorgestreckt, um nicht gegen einen Stamm zu prallen.
In der Nähe schlug ein Blitz ein. Pelagia drehte sich im Laufen um und sah die weißen Stämme, die gläserne Wand des Regens und dahinter, zwanzig Schritte entfernt, etwas Schwarzes, Bewegliches.
Sie konnte nicht weiter. Noch ein Dutzend Schritte, dann gähnte der Abgrund. Pelagia
Weitere Kostenlose Bücher