Akunin, Boris - Pelagia 01
Ewigkeit. Amen.«
Der Fluss empfing sie unerwartet weich federnd. Pelagia spürte keine Nässe, denn sie war ohnehin völlig durchweicht, und dass sie nicht mehr in der Luft war, sondern unter Wasser, merkte sie an der Eingeengtheit und der verlangsamten Abwärtsbewegung.
Sie ruderte mit den Armen, stieß sich mit den Beinen ab und strebte nach oben. Aber das Wasser wollte sie nicht loslassen, sondern zog sie irgendwohin, wirbelte sie herum, und sie konnte nicht länger die Luft anhalten. Gleich, gleich öffne ich den Mund, und dann komme, was will, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte keine Kraft mehr und riss den Mund weit auf, bereit, den Fluss in ihre Lungen einzulassen, aber ihre Lippen saugten kein Wasser ein, sondern Luft und Spritzer, denn in diesem Moment war ihr Kopf aus gischtenden Wellen aufgetaucht.
Sie atmete gierig ein, noch mal und noch mal, vergaß das Ausatmen, hustete, da zog die Unterwasserströmung sie hinunter, und sie verschwand wieder unter Wasser.
Diesmal war das Auftauchen noch mühevoller, denn die schweren Schuhe wollten ihren Körper in die Senkrechte strecken, damit der Fluss es leichter hätte, sie auf den Grund zu ziehen. Pelagia krümmte sich zusammen und zog die Schuhe aus, da wurde der Kampf mit dem Wasser leichter. Sie strampelte in den einhüllenden Umarmungen der Strömung, stieß sich ab und glitt nach oben, nach oben.
Wieder schluckte sie Luft, der Fluss trug seine Beute durch die Dunkelheit, wirbelte sie wie zum Vergnügen herum, mal im Uhrzeigersinn, mal ihm entgegen. Ganz in ihrer Nähe, nicht mit der Hand zu erreichen, aber erkennbar, schwamm etwas Helles in derselben Richtung wie sie und ebenso schnell. Pelagia ahnte mehr, als sie sah: die Umrisse abgebrochener Äste, und sie begriff, das war ihre Birke, ihre Leidensgefährtin.
Die wenigen Meter zu dem Baum zu überwinden war gar nicht einfach. Der Fluss schien zu glauben, dass Pelagia mit ihm spielen wolle, und ging bereitwillig darauf ein. Wenn sie schon so nahe heran war, dass ihre Finger die glitschige Borke berührten, warf der Fluss den Baum leicht und fröhlich, wie einen Holzspan, zur Seite. Einmal trieb es ihn weit weg, und Pelagia verlor die rettende Silhouette aus dem Blick. Lange würde sie sich nicht mehr über Wasser halten können, zu oft wirbelte es sie herum, und von Zeit zu Zeit wurde sie von einer Welle überspült, so dass sie sich heftig verschluckte.
Als Pelagia sich schon mit dem Verschwinden des Baums abgefunden hatte, schwamm er von selbst aus der Dunkelheit heran und klopfte mit einem Zweig an ihren Hinterkopf.
Abgekämpft hielt sich Pelagia erst mal an einem Ast fest und genoss es, dass sie nicht mehr zu strampeln brauchte. Als sie wieder bei Puste war, erklomm sie den Stamm. Ein paarmal glitt sie ab, kratzte sich die Schulter auf, aber schließlich schaffte sie es doch und setzte sich rittlings auf die Birke.
Vor langer Zeit, in ihrem früheren Leben, war Pelagia eine gute Reiterin gewesen und war gern in aller Frühe über die Wiesen galoppiert, hatte so ihr Inneres betäubt. Etwas Ähnliches empfand sie auch jetzt, doch plötzlich wurde die Strömung ruhiger, Pelagia und der Fluss waren ein Ganzes, sie war ein Teil von ihm. Sie saß einfach auf einer unbequemen Holzbank, die nirgends mehr hinjagte, sondern sich nur leicht auf der Stelle drehte.
Jetzt war nicht nur die Zeit entschwunden, sondern auch der Raum. Dafür kam die Kälte, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Sie spürte auch wieder den Sturzregen, schwere Tropfen prasselten ihr auf die Stirn und gegen die Wangen.
Ihre Zähne fingen an zu klappern, dann erzitterten die Schultern, und es wurde ganz schlimm, als sie kein Gefühl mehr in den Händen hatte. Wie es weitergehen würde, war leicht zu erraten: Die Finger würden sich öffnen und den Ast loslassen, dann würde sie in den Fluss stürzen und keine Kraft mehr haben, um gegen die Strömung zu kämpfen.
Genauso würde es kommen, nicht anders, denn einen anderen Ausweg konnte es nicht geben.
Ein Entschluss blieb ihr noch, aber der machte ihr Angst. Sie konnte selber ins Wasser springen und versuchen, ans Ufer zu gelangen. Aber wohin sollte sie schwimmen, nach rechts oder links? Sie war vom linken Steilufer in den Fluss gestürzt, und wie viel Zeit seitdem verstrichen war, wusste sie nicht. Es konnte sie durchaus zur Strommitte treiben, vielleicht gar ans rechte Ufer. Lange zu schwimmen vermochte sie nicht mehr. Wenn sie sich in der Richtung irrte, war Schluss,
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