Akunin, Boris - Pelagia 01
sich eine rote Furche eingekerbt, aus der Blut sickerte. Murad wischte mit dem Ärmel seines schmutzigen Beschmet wütend das Blut weg und schoss über das Fensterbrett.
Berditschewski focht einen qualvollen inneren Kampf aus. Auf der einen Seite war lediglich die Pflicht, auf der anderen waren die Ehefrau, zwölf (eigentlich schon fast dreizehn) Kinderchen und als Zugabe das eigene Leben. Die Gewichte waren ungleich verteilt. Berditschewski beschloss, sich still zu verhalten, schließlich konnte man Bubenzow immer noch verfolgen. Aber kaum hatte er diesen rettenden Entschluss gefasst, trat eine Kampfpause ein, und sich bekreuzigend schrie er verzweifelt:
»Lagrange, Hinterausgang!«
Murad drehte sich drohend um, und Berditschewski sah ein riesiges schwarzes Loch, das direkt auf seine Nasenwurzel starrte. Trocken knackte der Hahn, dann noch einmal, der Tscherkesse fluchte in seiner Sprache und warf den nutzlosen Revolver weg.
Doch die wundersame Rettung war ein Trugschluss, denn der Kaukasier zückte seinen gewaltigen Dolch und stürzte sich auf den armen Berditschewski. Der schlug den furchtbaren Menschen auf den Wangenknochen, aber das war, als schlage die Faust gegen Stein. Gebannt von dem geheimnisvollen Geflimmer der breiten Klinge, erstarrte der stellvertretende Staatsanwalt.
Der Tscherkesse packte seinen Gefangenen am Genick, setzte ihm den kalten Stahl an die Gurgel und sagte, einen Geruch von Blut und Knoblauch verströmend:
»Später stäch ich dich ab, nicht jätzt. Sonst töten sie mich sofort. Wenn Wolodja Vorsprung hat, stäch ich dich ab.«
Berditschewski kniff die Augen zu, er konnte die wahnsinnigen Augen, den schwarzen Bart und die blutende Wange nicht mehr sehen.
Draußen schrie Lagrange:
»Fahr die Droschke in die Kupetscheskaja! Ihr drei, marsch zu den Stadttoren. Die Schlagbäume runter! Jelissejew, nimm dir vier Mann und ab zum Pferdestall!«
Jetzt kommt Bubenzow nicht mehr weg, dachte Berditschewski, doch Trost brachte ihm das nicht. Er kriegte kaum Luft, so fest hielt ihn Murad im Würgegriff. Vor Entsetzen wurde ihm übel, und ihn durchzuckte sogar der Gedanke: Soll er doch zustechen, dann hat die Qual ein Ende.
Über das Fensterbrett schob sich vorsichtig der Kopf von Lagrange.
»Herr Berditschewski, sind Sie am Leben?«
Dshurajew antwortete:
»Wenn du dich einmischst, ist är tot.«
Da wurde der Polizeimeister mutiger, hob die Hand mit dem Revolver über das Fensterbrett und sagte grienend:
»Na, Dshurajew, hast du alle Kugeln verschossen? Ich habe mitgezählt. Wenn du Seiner Hochwohlgeboren ein Härchen krümmst, knall ich dich ab wie einen tollwütigen Hund. Lebendig nehm ich dich nicht gefangen. Das schwör ich bei Gott dem Herrn.«
»Murad fürchtet nicht dän Tod«, antwortete der verächtlich und hielt Berditschewski wie einen Schild vor sich.
Lagrange kletterte langsam aufs Fensterbrett.
»Das lügst du, mein Lieber. Den Knochenmann fürchtet jeder.«
Er setzte sich vorsichtig aufs Fensterbrett.
»Noch ein Schritt, und ich stäche ihn ab«, versprach der Tscherkesse leise.
»Schon gut«, beruhigte ihn der Polizeimeister. »Ich lege meinen Revolver hier hin.«
Er legte wirklich die Waffe an die Kante des Fensterbretts, so dass die Mündung über dem Boden schwebte, und schlug ein Bein über das andere.
»Dshurajew, einigen wir uns gütlich.« Lagrange holte ein Etui hervor und steckte sich eine Papirossa an. »Du hast mir zwei Männer durchlöchert. Dafür müsste ich dich auf der Stelle umlegen. Aber wenn du jetzt Seine Hochwohlgeboren loslässt und dich ergibst, bring ich dich lebendig ins Gefängnis. Und wir werden dich nicht mal schlagen, mein Offiziersehrenwort.«
Dshurajew knurrte nur.
»Na, habt ihr ihn?«, fragte Lagrange in den Hof hinaus.
Ihm wurde etwas geantwortet, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
»Ach, ihr Strolche, ihr habt ihn entwischen lassen?«, brüllte der Oberst aufgebracht und hieb mit der Faust auf das Fensterbrett, doch so ungeschickt, dass er genau den Revolverlauf traf.
In völliger Übereinstimmung mit den physikalischen Gesetzen vollführte der Revolver einen raffinierten Salto in der Luft und krachte mitten in der Stube auf den Boden.
Der Tscherkesse ließ seinen Gefangenen los und war mit einem Raubtiersprung bei der Waffe.
Und da zeigte sich, dass der fliegende Revolver ein Trick des gewieften Polizeimeisters war. Wie durch Hexerei hielt Lagrange einen zweiten, kleineren Revolver in der Hand, und der spie Feuer
Weitere Kostenlose Bücher