Al Wheeler und die Malerin
»Wer kommt schon auf so einen Gedanken ?«
Er kratzte sich heftig irgendwo
im Zentrum des weißblonden Dschungels, während er mich ein paar Sekunden lang
anstarrte. Dann atmete er gewichtig durch die Nase und blickte zu Bella
hinüber.
»Ich fange an, dies
faszinierend zu finden«, sagte er mit seinem wohlmodulierten tiefen Baß , der so gar nicht zu allem übrigen paßte .
»Der Lieutenant macht sich über mich lustig. Wir haben es hier mit einem
seltenen Phänomen zu tun — ein Polyp mit intellektuellem Ehrgeiz .«
»Erzähl ihm von dem Roman«,
wiederholte sie in demselben eindringlichen Ton wie zuvor. »Das wird ihn
faszinieren .«
Ich hätte schwören können, daß
sich vor den dicken Brillengläsern feuchter Dunst ansammelte, während er sie
eine Weile wie gebannt anstarrte. »Du glaubst, mein Werk ist der größte Witz,
von dem du je gehört hast, nicht wahr ?« sagte er
leise. »Du kannst es gar nicht abwarten, bis ich vor dem Lieutenant damit
geprotzt habe, so daß er das Vergnügen teilen kann! Was hast du vor, Bella? Suchst
du nach einer anderen robusten Beziehung als Ersatz für die, welche du zu Gil
hattest ?«
»Dann laß es eben bleiben !« sagte sie mit gepreßter Stimme.
Alle gute Laune war aus ihrer Stimme gewichen. »Stell dich in eine Ecke und
schmolle für die nächsten zwei Tage, Baby. Mir ist es völlig egal .«
Er wandte den Kopf und blickte
mir direkt ins Gesicht, so daß ich seine vergrößerten und verzerrten, hinter
den dicken Glaswänden schwimmenden Augen sehen konnte.
»Der Roman ist eine
aussterbende Kunstform, Lieutenant«, sagte er leichthin. »Und es hat seinen
Grund. Können Sie sich denken, warum ?«
»Vielleicht kaufen die Leute
keine Romane mehr ?« sagte ich.
Seine Mundwinkel zuckten
flüchtig. »Sehr klug«, sagte er anerkennend. »Der Roman stirbt aus, Lieutenant,
weil sich sein grundlegendes Thema erschöpft hat: die Menschen. Mein Roman
enthält eine völlig neue Idee .«
»Ich habe schon von Büchern
über Menschen gehört, die nicht geschrieben wurden«, sagte ich. »Sie wollen ein
Buch schreiben, in dem keine Menschen vorkommen ?«
»Mein Buch hat nichts mit
Menschen zu tun«, sagte er kalt, »nichts .«
»Worüber ist es dann ?«
»Über die Fäulnis«, verkündete
er, ȟber den Lebenszyklus eines Sumpfs vom ersten Augenblick seiner Stagnation
an bis zur äußersten Fäulnis .«
»Wird das ein langer Roman ?« fragte ich nervös.
»Bis jetzt habe ich
dreihunderttausend Worte geschrieben«, sagte er stolz. »Und ich habe noch nicht
einmal begonnen, die Grundbegriffe der schleichenden Verwesung in Angriff zu
nehmen .«
»Er liest sich auch wirklich
leicht«, sagte Bella. »All diese Abschnitte und Dialoge, dieser ganze Quatsch
ist nichts für Lammie ! Nur einfach hintereinander
diese dreihunderttausend Worte — bis jetzt in drei Kapitel unterteilt, um auch
den Rückwärtslesern eine Chance zu geben .«
Ich war zu sehr damit
beschäftigt, Pierces Augen zu beobachten, die sich hinter den dicken
Brillengläsern rapide hin- und herzubewegen begannen,
um auf etwas anderes zu achten. Die Augen warteten auf meine Reaktion, und ich
hatte das unbehagliche Gefühl, daß sie, wenn ich auch nur einmal auflachte, in
kleine Stücke zerspringen und für alle Zeiten verschwinden würden.
»Es amüsiert Sie offenbar
nicht, Lieutenant ?« fragte er nach langem Schweigen
mißtrauisch.
»Nein«, sagte ich und spürte
mit vagem Erstaunen, daß es der Wahrheit entsprach. »Wenn Sie etwas tun, das
Sie für wichtig halten, dann müssen Sie es eben tun. Die Tatsache, daß es Ihnen
wichtig ist, ist ein ausreichender Grund, es zu tun. Sie müssen nun eben einmal
einen Roman über den Sumpf schreiben, ebenso wie Bella fortgesetzt dieselbe
Orchidee malen muß, bis sie überzeugt ist, ihr innerstes Wesen erfaßt zu haben .«
»Hörst du das ?« Er wandte den Kopf und grinste die Wassernymphe triumphierend an. »Er ist ein
Phänomen — ein Polyp, der denken kann .«
In die blauschwarzen Augen trat
ein verdrossener Schimmer, bevor sie sich bückte, um Schere und Leinwand wieder
aufzuheben. »Einfach grandios«, sagte sie verächtlich, packte die Leinwand und
begann plötzlich darauf loszuschneiden.
»Arme Bella —!« Pierce kicherte
vergnügt. »So schrecklich mißverstanden . Kleine Miss
Möchtegern, die alles daransetzt, sich selber davon zu überzeugen, daß ihr
Geist die Herrschaft über ihren Körper ausübt !«
Die Spitze der Schere stach
plötzlich geradewegs durch
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