Alanna - Das Lied der Loewin
Nach dem Schamanen ergriff Gammal das Wort. Noch einmal erzählte er von den seltsamen Begebenheiten, die sich sechs Jahre zuvor in der Schwarzen Stadt zugetragen hatten.
Ein hoch gewachsener Bazhir namens Hakim Fahrar sprach von der Strafe, die jedem Fremdling gebührte: Tod. Andere im Stamm waren für Mäßigung und meinten, Menschen, die sich nicht änderten, wenn sich die Zeiten wandelten, seien dem Untergang geweiht. Die Debatte nahm kein Ende. Trusty machte inzwischen ein Nickerchen. Wenn es nicht um ihr Leben und um das Corams gegangen wäre, hätte Alanna bei diesen langen Reden die Langeweile gepackt. So wie die Dinge standen, wuchs ihr Respekt vor Halef Seif, der darauf bestand, sich die Meinung eines jeden Mannes anzuhören. Dies war nicht das erste Mal – und es würde auch nicht das letzte Mal sein –, dass ihr auffiel, wie wichtig es den Angehörigen des Volkes der Bazhir war, dass jeder Mann das Recht bekam seine Meinung zu äußern. (In manchen Dingen ließ man sogar die Frauen mitreden, wie sie später erfuhr.)
Nur einmal wurde etwas gesagt, das sie verwirrte. »Die Stimme ließ sie und den blauäugigen Prinzen ehren, als sie vom Kampf mit den Namenlosen zurückkehrten«, erklärte Gammal dem Schamanen aufgeregt.
»Die Stimme sagt auch, wir müssten selbst über ihr Schicksal entscheiden«, warnte Halef. »Sei ruhig. Wir werden Gerechtigkeit üben.«
Alanna runzelte die Stirn. Ishak hatte eine »Zeit der Stimme « erwähnt, jetzt sprachen Gammal und der Häuptling von der »Stimme«. Hat mir Myles jemals von einem Gott oder einem
Priester der Bazhir erzählt, der diesen Namen trägt?, überlegte sie. Ich glaube nicht. Wenn ich diese Nacht überlebe, muss ich Halef Seif fragen, was es mit dieser »Stimme« auf sich hat.
Der älteste Mann des Stammes hob die Hand. »Es gibt einen Weg, um den Stand dieser Frau zu klären. Sie trägt Waffen wie ein Mann – lasst sie doch kämpfen wie ein Mann. Gebt ihr das Recht auf einen Urteilsspruch durch Zweikampf. Gewinnt sie, tut der Stamm gut daran, sie aufzunehmen. Verliert sie, soll auch ihr Diener sterben.«
Der Schamane sprang auf und kreischte: »Dem, der sie tötet, werden die Götter gnädig sein! Das schwöre ich!«
»Warum tötet Ihr mich nicht selbst, wenn Ihr dadurch die Gnade der Götter erringt?«, erkundigte sich Alanna mit sanfter Stimme. Unterdrücktes Gelächter erklang; der Schamane wirbelte herum und funkelte Alanna böse an.
»Sie macht sich lustig über unsere Bräuche!«, rief er.
»Ich mache mich lustig über einen Schamanen, der sich meine Besitztümer ansieht und dann nach meinem Tod schreit, weil ich angeblich die Götter beleidige. Wollt Ihr abstreiten, dass Ihr Euch für mein Eigentum interessiert?«, fragte sie ruhig und sah ihm dabei unverwandt in die Augen.
Halef rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ein Drittel dessen, was Ihr besitzt, geht an den, der Euch tötet. Ein Drittel fällt dem Häuptling zu, ein Drittel dem Priester. So war es schon seit jeher.«
Alanna grinste hämisch. »Das dachte ich mir.«
Halef Seif hob die Hände. »Die Männer des Stammes werden darüber abstimmen, ob der Frau-die-wie-ein-Mann-reitet das Recht auf den Urteilsspruch durch Zweikampf gewährt werden soll.«
Frauen schlängelten sich zwischen den Männern hindurch
und verteilten kleine Pergamentzettel, Binsenhalme zum Schreiben und Tinte. Dann kamen sie wieder, um die zusammengefalteten Zettel einzusammeln. Halef Seif zählte, entfaltete sie mit großer Sorgfalt und verteilte sie dann vor sich auf zwei Häufchen, sodass ihm keiner vorwerfen konnte, er habe bei der Abstimmung in irgendeiner Weise eingegriffen. Wieder beeindruckte es Alanna, wie redlich die Bazhir waren.
Schließlich wurden die Stimmen ausgezählt. »Der Zweikampf soll stattfinden. So wurde entschieden«, verkündete Halef Seif.
2
Der Stamm des Blutigen Falken
Alanna stand auf und rieb sich nervös die feuchten Hände an ihrem Waffenrock. »Ich nehme die Entscheidung des Stammes an. Wer kämpft gegen mich?« Hakim Fahrar erhob sich. »Gesetz ist Gesetz. Ich will für den Stamm kämpfen.«
Alanna bückte sich, zog Stiefel und Strümpfe aus und nahm währenddessen ihren Gegner in Augenschein. Er war um Hauptes- und Schulterlänge größer als sie und im Schein des Feuers sah man die harten Muskeln an seinem nackten Oberkörper. Er wirkte beweglich, aber ob er es tatsächlich war, würde sich erst im Kampf erweisen.
Corams schwielige Hände waren sanft, als er ihr mit
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