Alanna - Das Lied der Loewin
Hexen-Tochter befehligte Wettermacher: Nebel hüllte sie ein, dämpfte die Geräusche und ließ sie nahezu unsichtbar werden.
Der Ritt zur Grenze dauerte drei Tage. Liam schlug eine Geschwindigkeit ein, bei der alle mithalten konnten. Alanna hatte das Kommando an ihn abgetreten: Nicht nur, dass er den östlichen Teil von Sarain und das Dach der Welt kannte, nein, ihm selbst lag auch daran, die Führung zu übernehmen.
Ich frage mich, ob das wirkliche Juwel tun würde, was seine Vision mit mir tat – mich in sich hineinziehen, bis ich es mit meinem Leben nähre. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Herrscher bin – nicht so wie Jon, Georg oder sogar Liam. Ich lebe gern mein eigenes Leben – auf das anderer will ich keinen Einfluss nehmen.
Die Gegend war verlassen. Die normalen Bewohner – Fallensteller, Bergbewohner, Angehörige von K’miri-Stämmen, ein paar wenige Stammesangehörige der auf dem Dach der Welt ansässigen Doi – waren selbst zu besseren Zeiten nicht gesellig und jetzt waren sie vor den gelegentlichen Patrouillen
der von Süden kommenden Heere geflohen. Alanna schenkte dem verlassenen Land wenig Beachtung. Was wird Thayet nun tun? Sie hat keine Heimat mehr, kein Königreich. Hat sie vor, sich einfach treiben zu lassen?
Und ist das nicht auch, was ich vorhatte?, sagte sie sich, als sie ) nach der Flucht aus der Klosterschule ihr erstes Nachtlager aufschlugen. Von Ort zu Ort zu reisen und nach »Abenteuern« zu suchen? In jüngster Zeit kamen ihr die alten Vorstellungen albern vor – der Traum eines Kindes, nicht der einer Erwachsenen. Ich brauche ein Ziel im Leben. Mein Plan, auf Abenteuersuche zu gehen, fällt – wenn ich ihn genauer betrachte – in sich zusammen wie die Zuckerwatte, die auf dem Markt von Corus verkauft wird. Ich brauche ein wirkliches Ziel – etwas, worauf ich hinarbeiten kann. Früher hatte ich eines – meinen Schild. Wonach kann ich jetzt, wo ich ihn habe, streben? Ich will nicht mein ganzes Leben mit der Suche nach dem Juwel verbringen!
Drei Tage nach ihrem Aufbruch aus Rachia kamen sie zum M’kon, dem Fluss, der die Sarainer Grenze bildete. An seinem östlichen Ufer lag die Festung Wei, ein Sarainer Vorposten. Östlich des Flusses gab es keine zentral regierten Länder mehr. Jenseits von Wei war das Land hügelig und von kleinen Tälern durchzogen. Über diesen Hügeln erhob sich drohend ein riesiges, purpurfarbenes Band, das zu regungslos dalag, um aus Wolken zu bestehen.
Thayet kam auf ihrer Stute neben Moonlight geritten und folgte Alannas Blick. »Das Dach der Welt«, sagte sie leise.
4
Das Dach der Welt
Gleich hinter der Grenze begann der Weg anzusteigen. Die Nächte waren kalt, obwohl es schon Mai war. Alanna war dankbar für Liams Wärme in ihrer Bettrolle. Thayet zog als Erste einen pelzgefütterten Umhang über, doch die anderen taten es ihr schon bald nach.
Jetzt nahmen auch Thayet und Buri am frühmorgendlichen Unterricht des Drachen teil und lernten die waffenlosen Kampfsportarten der Shang. Alanna war überrascht von ihrer eigenen Geschicklichkeit. Es schien, als käme ihr nun die jahrelange Ritterausbildung zugute. Wenn sie übte und sie elegant von einem Tritt zu einem Schlag und wieder zurück wechselte, spürte sie, dass mit ihrem Körper eine Veränderung vorgegangen war. Angefüllt von dem Optimismus dessen, der körperlich in Höchstform ist, forderte sie das Dach das Welt insgeheim dazu heraus, sich von seiner schlimmsten Seite zu zeigen.
Je weiter sich Thayet von ihrer Heimat entfernte, desto ruhiger wurde sie. Sie sprach so offen über ihre Kindheit, dass Alanna Coram für die liebevolle, wenn auch strenge Erziehung dankte, die er ihr und Thom hatte angedeihen lassen. Thayet war die Tochter eines Herrschers, der einen
Sohn haben wollte, und so hatte ihr nur ihre Mutter Kalasin gezeigt, dass sie geliebt wurde. Kalasin war es auch gewesen, die Thayet in der Lebensweise der K’mir unterwies, Kalasin und Buris Familie.
»Ich könnte niemals eine so gute Königin werden wie meine Mutter«, sagte Thayet lächelnd. »Wobei das ja jetzt keine Rolle mehr spielt, weil ich sowieso nie eine sein werde.«
»Tut es dir leid?«, wollte Alanna wissen. Als Jon sie damals gebeten hatte seine Frau zu werden, war sie sehr erschrocken bei dem Gedanken, dass sie ja dann eines Tages Königin werden musste.
»Ein bisschen«, gestand Thayet. »Ich ändere gern die Dinge. Zum Beispiel haben die Frauen in Sarain keinerlei Rechte. Nur die, die
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