Alanna - Das Lied der Loewin
werden müssen – so war es Brauch bei allen Töchtern der Ostländer. Und doch standen sie draußen vor den Toren des eigentlichen Klosters und wurden von einer Frau am Eingang bewacht, die das Gewand der Töchter trug. Keine andere Priesterin war in Sicht, dabei beherbergte ein Bau dieser Größe mindestens zweihundert. Thayet war überrascht, die Kinder unruhig.
»Was geht hier vor sich?«, fragte Alanna leise Liam.
»Ich weiß nicht.« Seine Augen waren blaugrau und unergründlich. »Ein paar Töchter kamen heraus, schnatterten wie die Gänse und verschwanden wieder. Die Frau am Eingang sagt, wir müssten warten. Ich will nicht, dass Thayet hier herumsteht und gesehen wird.«
Buri machte ein finsteres Gesicht. »Ist das die Ehre, die man einer Prinzessin erweist? Ich müsste diesen Hühnern vom Flachland Manieren beibringen.«
»Spar dir deine Wut für Thayets Feinde«, riet Liam. »Du kannst ihr am besten dienen, wenn du Vorsicht walten lässt.«
»Dumme Hühner!«, murrte Buri widerspenstig.
Auch Alanna wollte Thayet an einem sicheren Ort wissen, nicht in diesem offenen Hof. Sie ging zu der Frau an der
Tür. »Sei so gut und überbring der Ersten Tochter des Hauses eine Nachricht von mir.«
Die Tochter nickte. Betont kühl sagte die Ritterin: »Ich bin Sir Alanna von Trebond und Olau, Ritterin des Königreichs Tortall, Schamanin und Reiterin vom Bazhir-Stamm des Blutigen Falken. Warum lässt man uns vor den Mauern stehen? Warum erklärt man uns nicht, was diese mangelnde Höflichkeit zu bedeuten hat? Die Kinder sind müde und hungrig, wir sind müde und schmutzig, und auf Prinzessin Thayet wurde geschossen. Die Töchter der Mutter des Wassers sind als Dienerinnen der Mächtigen Mutter, die uns alle lenkt, den Reisenden Gastfreundschaft schuldig – warum gewährt ihr uns die nicht? Ich sehe mich gezwungen, ein derartiges Versäumnis der Göttin-auf-Erden in der Stadt der Götter zu melden.« Alannas violette Augen blitzten gefährlich, als sie mit einem Nicken befahl: »Sei so gut und überbring meine Nachricht.«
Die Tochter verbeugte sich und eilte davon.
Schon Minuten später führte man sie zu einem Gästehaus, das ein gutes Stück innerhalb der dicken Klostermauern lag. Bedienstete kamen und kümmerten sich um die Kinder, während die Türsteherin die Erwachsenen und Buri zu einer Besprechung mit der Obersten des Klosters führte. Sie durchquerten einen langen Hof, dann betraten sie einen Raum, wo zwei Töchter an einem langen Tisch saßen. Die eine trug das schwarze Gewand der »Hexe« (der Muttergöttin als Königin der Unterwelt), die andere die goldene Robe, die sie als Erste Tochter einer reichen Klosterschule auszeichnete.
»Ich bin jian Cadao, die Erste Tochter«, sagte sie, als alle saßen. Sie vermied es, Thayet anzusehen. »Prinzessin – Lady
Thayet, wir waren – nun, wir waren nicht vorbereitet auf Euer Kommen. Seid versichert, dass Euch jegliche Höflichkeit erwiesen ...« Völlig verwirrt brach sie ab.
»Es gibt Probleme.« Die Frau in Schwarz war jung, doch sprach sie mit Autorität. »Mehr, als wir vorhersehen konnten.« Buri fand, dass die Tochter unhöflich war zu ihrer Prinzessin, und machte eine Bewegung. Die schwarz gekleidete Tochter nickte ihr zu. »Vergib meine Direktheit – ich habe nie gelernt, mit Worten zu beschönigen. Prinzessin, Euer Vater – der Kriegsherr – ist tot. Möge der Dunkelgott seinen Heimgang erleichtern.«
Thayets elfenbeinfarbene Haut wurde kreideweiß. »Wie? Und – wann?«, keuchte sie.
»Eine Krankheit«, entgegnete die Hexen-Tochter. »Unvermittelt und schmerzhaft. Wir argwöhnen natürlich, dass er vergiftet wurde. Aber keinem liegt viel daran, es zu beweisen.« Nach einem Zögern fügte sie leise hinzu: »Vergebt mir, falls ich zu direkt war. Soviel ich weiß, sprecht Ihr mit Eurem Vater schon seit langem nicht mehr.«
»Ja. Seit das mit meiner Mutter passierte«, flüsterte Thayet und versuchte zu lächeln. »Trotzdem, ich hatte nur ihn. Fahrt bitte fort.«
»Ihr müsst versuchen, auch unsere Lage zu verstehen. Der Tod Eures Vaters gibt Eurem Aufenthalt in unseren Häusern eine andere Bedeutung.« Ihr Blick, anders als der der Ersten Tochter, hatte bisher auf der Prinzessin geruht. Der Drache begann auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, als sie nun ihn musterte. »Der Rebellenführer zhir Anduo gab klar zu erkennen, dass er mit Euch zu reden wünscht.«
»Dass er sie umbringen will, meint Ihr wohl«, knurrte
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