Alanna - Das Lied der Loewin
ihnen der Ehegatte oder der Vater gewährt. Landbesitz und sonstiges Vermögen befindet sich in der Hand der Männer. Frauen können nicht erben.«
»Das ist ja barbarisch!«, meinte Alanna. »Bei uns zu Hause kann jede Frau erben. Titel nicht, aber Ländereien. Ich bin nach dem Gesetz Myles’ Erbin – was nicht alltäglich ist, aber es kommt vor.«
»Tortall muss wunderbar sein«, seufzte Thayet.
»Wenn du dort bist, wirst du sehen«, versprach die Ritterin. Insgeheim fügte sie hinzu: Wir alle werden das eine oder andere sehen, wenn wir dort ankommen .
Da gerade der Schnee zu schmelzen begann, nahm der Handel wieder zu. Bergarbeiter, Fallensteller und Handelskarawanen bevölkerten die Straßen und die kleine Gruppe begegnete Hirten, die Herden zu den Märkten im Süden trieben. Bauern mit Karren, beladen mit Käse, bunten Webstoffen und Hühnern, winkten ihnen zu, wenn sie vorüberritten.
Zurückhaltend blieben nur die Angehörigen der Doi-Stämme. Sie waren ein Volk wie die K’mir, wenn auch weniger wild als ihre Brüder und Schwestern im Westen. Im Überleben auf dem Dach der Welt waren sie Experten, von ihnen stammten die erfahrensten Bergführer und aus ihren versteckt liegenden Dörfern kamen die besten Felle.
Die Reisenden ritten tiefer in die höchsten Berge ihrer Welt hinein; entlang des Weges lag vereinzelt Schnee. Alanna kämpfte gegen ihre immer stärker werdende Ungeduld an. Aus irgendeinem Grund war ihr, als müsse sie sich auf den Heimweg machen. Doch jetzt, wo sie schon fast am Ziel angelangt waren, wäre es töricht gewesen umzukehren. Nun wollte sie den Pass finden und, was auch immer vor ihr liegen mochte, hinter sich bringen.
Sie machte einen Versuch Thom oder Jonathan mit ihrer Gabe zu erreichen, aber sie hatte keinen Erfolg. Die Entfernung war zu groß. Seit ihrer Abreise aus dem Kloster hatte sie Coram seine Rispah nicht mehr zeigen können. Vielleicht besaß Thom die Macht, mit seiner Zauberkraft über den Kontinent zu reichen, doch sie nicht.
Irgendwann – es war bereits mehrere Tage her, dass sie die Grenze überschritten hatten – schloss sie unterwegs zu Coram auf und machte ihm ein Zeichen, er solle sich mit ihr ein Stück zurückfallen lassen. Als ihre Freunde sie nicht mehr hören konnten, fragte sie ihn unvermittelt: »Hast du mit der Stimme Kontakt gehabt?« Sie bezog sich damit auf das abendliche Ritual der Buri: Jeden Tag bei Sonnenuntergang hielten alle, die den Buri angehörten, von überall her eine auf Magie begründete Zwiesprache mit der Stimme der Stämme. Auf diese Weise erfuhr die Stimme alle Neuigkeiten, schlichtete Streitigkeiten, gab Rat. Seit der Stamm der
Blutigen Falken Alanna und Coram an Kindes statt angenommen hatte, konnten sie beide an dieser Zwiesprache teilnehmen, aber Alanna hatte sich immer geweigert. Zuerst, weil sie eine Abneigung dagegen hatte, dass irgendeiner Einblick in ihr Inneres hatte, auch wenn er in solchem Maß an Pflichten gebunden war wie die Stimme. Später, als Prinz Jonathan zur Stimme geworden war, hatten sie sich gerade zerstritten und ihre Liebesbeziehung abgebrochen. Daher hatte Alanna keinerlei Lust, dass Jon erfuhr, was sie dachte und fühlte. Sie wusste aber, dass Coram, seit ihn der Stamm aufgenommen hatte, an diesem Ritual teilnahm.
Verdutzt starrte Coram sie an. »Letzten Herbst, als wir nach Caynnhafen aufbrachen, hast du gesagt, ich soll bloß nicht drüber reden und dir sagen, was ich weiß ...«
Alanna stieg das Blut in die Wangen. »Jetzt liegen die Dinge anders. Und?«
»Seit unserem Aufbruch nach Maren nicht.«
Alanna war erstaunt. »Als wir noch bei den Buri waren, hast du dich fast jeden Abend daran beteiligt. Warum jetzt nicht mehr?«
Coram zuckte die Achseln. »Wenn man nicht beim Stamm lebt, ist es anders. Es fühlt sich irgendwie so einsam an. Aber letzte Woche hab ich’s versucht. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, was wohl zu Hause los ist.«
»Und?« Sie klang erwartungsvoll, auch wenn sie es zu verbergen suchte.
»Tut mir leid – ich muss zu weit weg sein. Ich hab rein gar nichts gespürt.«
Alanna setzte ein Lächeln auf. »Schon gut. Vermutlich mache ich mir ganz umsonst Sorgen.« Sie übersah geflissentlich Corams bekümmerte Miene und holte Liam wieder ein.
In der ersten Maiwoche erreichten sie das Lumuhu-Tal und nach einem weiteren Tagesritt kamen sie zu den Zwillingspässen am nördlichen Rand. Dort, wo sich die beiden Passstraßen trafen, stand ein stabiles, aus Holz und
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