Alanna - Das Lied der Loewin
Steinen gebautes Gasthaus. Auf der Wiese hinter den Gebäuden lag eine zerfressene Schneedecke. Die Straße nach Nordosten war durch Eis und Schnee blockiert, der Pass selbst war vollkommen unbegehbar. Alanna musste schlucken, als sie ihren Blick über diesen zweiten Pass schweifen ließ. Wieso hatte sie das Gefühl, dass das der Chitral sein musste?
Der Himmel war schon den ganzen Tag grau gewesen. Gerade als sie die Pferde im Stall unterbrachten, verdunkelte er sich noch mehr. Als sie den Gasthof betraten, ging ein Schneeregen nieder.
»Mit den Schneestürmen im Mai ist nicht zu spaßen«, sagte der Gastwirt, der ihnen heißen Most brachte, während sie warteten, dass man ihre Zimmer richtete. »Das ist der Preis für unsere hoch gelegene Bleibe hier. Ihr richtet euch am besten schon mal häuslich ein. Der Sturm wird das Tal für ’ne Woche abriegeln – vielleicht sogar länger.«
»Was ist mit dem Chitral?«, fragte Liam.
Der Mann lachte. »Vater Chitral ist erst ab Beltane begehbar und dann bloß für ’nen Monat oder zwei. Wenn euch einer gesagt hat, der Chitral-Pass sei ’ne gute Straße, dann hat er sich ’nen Scherz erlaubt – ich hoff bloß, ihr habt ihm für seinen Rat nichts bezahlt.« Immer noch lachend ging er davon.
»Jetzt wissen wir, warum sich bisher keiner das Juwel geholt hat«, seufzte Buri. Thayet starrte deprimiert ins Feuer, Alanna kuschelte sich in ihren Umhang und horchte auf das lauter werdende Heulen des Winds.
Liam blieb unten, während Alanna in ihr gemeinsames Zimmer ging, um sich zu waschen und saubere Kleidung anzuziehen. Als sie ihre Taschen auspackte – immerhin sah es ja so aus, als würden sie eine Weile bleiben –, fand sie das violette Kleid, das sie schon mit sich herumschleppte, seit sie Corus verlassen hatte. »Wie lang ist es her, seit ich das letzte Mal ein Kleid trug?«, erkundigte sie sich bei Trusty.
Der Kater sah auf. Das da hattest du letzten Herbst bei Georg in Caynnhafen an .
»Stimmt.« Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. »Es ist sein Lieblingskleid.«
Bloß war es damals nicht so verknittert , bemerkte der Kater.
Alanna klingelte nach dem Zimmermädchen.
Thayet klatschte in die Hände, als Alanna in ihrem violettfarbenen Seidenkleid (das Zimmermädchen hatte die meisten Falten weggebügelt) in den Gastraum trat. Buri pfiff, Coram grinste. Liam musterte sie mit eigenartiger Miene von Kopf bis Fuß. »Na?«, fragte ihn Alanna schließlich. Die Reaktion der anderen hatte sie verlegen gemacht. »Gefällt es dir nicht?«
»Nicht schlecht«, sagte er. »Aber unpraktisch, wie mir scheint.«
Würde sie ihn jemals verstehen? »Es soll ja nicht praktisch sein – es ist ein Kleid. Ein Kleid, das sich schön anfühlt, wenn man es anzieht.«
»Einen Kampf gewinnst du nicht, weil sich dein Kleid schön anfühlt.« Seine Augen hatten das fahle Grau angenommen, das ihr nicht verriet, wie ihm gerade zumute war.
»Ich glaube kaum, dass ich hier mit jemandem kämpfen werde. Höchstens mit dir«, fauchte sie. »Warum kann ich
nicht von Zeit zu Zeit ein Kleidungsstück anziehen, das unpraktisch ist?«
»Mach, was du willst«, sagte er achselzuckend. »Vermutlich willst du demnächst Ohrringe, Armreifen und anderen derartigen Firlefanz. Und dann? Einen Ehemann aus dem Adel und Hofintrigen?«
»Ich bin eine Frau.« Peinlich berührt, merkte sie, dass Coram, Thayet und Buri unauffällig zu verschwinden versuchten. »Wie kommst du auf die Idee, ich wollte alles aufgeben, was ich bin, nur weil ich ein Kleid trage?«
»Unser Weg ist hart, kalt und dreckig. Aber vielleicht hattest du dir das Leben eines fahrenden Ritters ruhmreicher vorgestellt.« An seiner Bemerkung war so viel Wahres, dass es schmerzte. Er deutete auf ihr Kleid. »Möglicherweise ist das die Lady Alanna, die du deinem Prinzen zeigen willst, wenn du heimkommst.«
Sie verließ den Raum. Wenn sie jetzt etwas sagte, würde sie sofort losheulen, das war ihr klar. Sie rannte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie war sich tatsächlich gar nicht mehr so sicher, was dieses Leben als Ritterin auf Wanderschaft betraf, doch nicht aus den Gründen, die er angeführt hatte.
Alanna riss sich das Kleid vom Körper und warf es in die Ecke. Unterkleid und Strümpfe flogen hinterher. Sie war gerade dabei, sich Kniehosen und Hemd anzuziehen, als sie zu weinen anfing. Schon Sekunden später war ihr Taschentuch klatschnass.
»Ich hasse ihn!«, rief sie und trommelte aufs Bett. »Ich hasse
Weitere Kostenlose Bücher