Alanna - Das Lied der Loewin
ins Tanzende Täubchen zu kommen und Georg zu besuchen«, sagte Gary.
Alannas Gesicht leuchtete auf. Seit kurz vor dem Tod ihres Vaters vor fast sechs Wochen hatte sie dem König der Diebe keinen längeren Besuch mehr abgestattet. Gerade zog sie die Stiefel an, als Raoul rief: »Großer Mithros, eine Katze! Was willst du denn mit der ? Vermutlich hat sie Flöhe.«
Jonathan beugte sich hinunter und ließ das Kätzchen an seinen Fingern schnuppern. »Erkennst du denn nicht den Hausgenossen eines Zauberers, wenn er vor dir steht?«, witzelte er. »Und haben solche Hausgenossen etwa Flöhe?« Er hob das winzige Tierchen hoch und sah es sich genauer an. Seine saphirblauen Augen wurden groß. »Bei der Göttin!«
Raoul und Gary kamen herüber und starrten auf das kleine Tier. Das Kätzchen hatte ebenso violette Augen wie ihr Freund Alan. Raoul schluckte und fragte schließlich: »Wie willst du ihn nennen? Ist er überhaupt ein ›er?‹« Alanna nickte.
»Nenn ihn doch Pounce«, schlug Jonathan vor.
»Oder Blacky«, meinte Raoul.
»Wie wär’s denn mit Raoul?«, erkundigte sich Gary.
Das Kätzchen streckte eine Pfote nach Alanna aus und miaute. Sie nahm Jonathan ihren neuen Freund ab und setzte ihn an seinen Lieblingsplatz – auf die Schulter unter ihrem linken Ohr.
»Mir gefällt ehrlich gesagt Trusty am besten«, meinte sie.
Jonathan zog seinen Dolch aus der Scheide und berührte den Kater auf beiden Schultern und auf dem Kopf damit, als wolle er ihn zum Ritter schlagen. »Hiermit taufe ich dich auf den Namen Trusty«, erklärte er feierlich. »Diene redlich und gut.«
Trusty machte seinem Namen Ehre, er war Alanna treu und folgte ihr auf Schritt und Tritt. In den Übungshöfen erhob er Anspruch auf einen bequemen Pfosten, auf dem er sitzen und zuschauen konnte, wie sich Alanna mit den anderen Knappen und Pagen zusammen in den Kampfsportarten übte. Es dauerte etwas länger, bis es ihm gelang, sich in die Unterrichtsräume einzuschleichen. Myles ließ ihn von Anfang an zusehen und sagte, ebenso wie allen anderen stünde auch Katzen das Recht zu, Geschichte zu lernen. Aber Alannas andere Lehrer – die meisten waren Mithran-Priester – versuchten tagelang, Trusty daran zu hindern hereinzukommen. Doch regelmäßig tauchte er bis zum Ende der Stunde im Unterrichtsraum auf. Schließlich gaben die Lehrer den Kampf auf und streichelten den Kater sogar geistesabwesend, während sie unterrichteten.
Nur zu Herzog Rogers Unterricht für diejenigen, die wie Alanna und Jonathan die Zaubergabe besaßen, ließ Alanna ihren kleinen Freund nicht mitkommen. Sie wusste nicht, was der Zauberer von ihrem Haustier halten würde, und sie wollte es auch gar nicht wissen.
Die restliche Zeit klebte Trusty an Alanna wie eine kleine schwarze Klette. Herzog Gareth von Naxen, Garys Vater, verwehrte es dem Kater nicht, Alanna auf Schritt und Tritt zu folgen, als er sah, dass er keinen vom Lernen ablenkte. Schon bald war Alanna mit ihrem Katerchen unter dem linken Ohr ein wohl bekannter Anblick im Palast. Obwohl Trusty Myles, Jon und die meisten von Alannas anderen Freunden (einschließlich Georg) offensichtlich mochte und bei ihnen blieb, wenn Alanna zu tun hatte, gewährte er nur ihr das Vorrecht, ihn auf ihre Schulter zu nehmen.
»Vielleicht hat er was gegen große Leute«, mutmaßte
Gary an einem Regennachmittag im Mai kurz vor Alannas fünfzehntem Geburtstag.
Es war einer jener seltenen, ruhigen Nachmittage für die jungen Ritter und für Alanna. Da Gary und Raoul frei hatten, gaben sie auch ihren beiden Knappen Urlaub. Raoul und Jonathan spielten Halma, während Alex – das fünfte Mitglied ihrer Gruppe und der Einzige, der nicht heimlich mit Georg befreundet war – zusah. Gary lümmelte auf einer Fensterbank und überlegte sich, wie er sich wohl diesen Sommer um einen Besuch auf seinem heimatlichen Lehnsgut Naxen drücken konnte. Alanna hatte es sich auf einer anderen Fensterbank gemütlich gemacht und hörte zu, wie ihr Trusty ins linke Ohr schnurrte, und dachte an gar nichts.
»Hm?«, fragte Alanna schläfrig, als sie merkte, dass Gary mit ihr sprach.
»Vielleicht will Trusty nicht auf unserer Schulter sitzen, weil er Höhenangst hat.«
»Gut möglich.« Jonathan grinste. »Sogar Alex ist einen halben Kopf größer als Alan.«
»Vielen Dank auch«, sagte Alex trocken.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Herzog Roger trat ein. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und Jonathan war nicht zu übersehen, obwohl die Augen
Weitere Kostenlose Bücher