Alanna - Das Lied der Loewin
nicht.«
»Weil du Angst hast vor der Liebe«, erklärte ihr die Göttin. »Du hast Angst vor Jonathans Liebe und vor Georgs auch. Sogar vor Myles’ Liebe, der nur ein Vater für dich sein will, fürchtest du dich. Was ist es denn, was dir Angst macht? Menschliche Wärme? Vertrauen? Die Berührung eines Mannes?«
»Ich will von keinem Mann berührt werden!«, rief Alanna.
Entsetzt streckte sie mit einer entschuldigenden Geste die Hände aus. »Entschuldigt. Ich wollte nicht respektlos sein. Ich möchte nur eine Kriegerin werden und Abenteuer erleben. Ich mag mich nicht verlieben; vor allem nicht in Georg oder Jon. Sie werden wollen, dass ich ihnen einen Teil von mir gebe. Das will ich aber nicht. Ich will mich nicht hergeben. Seht meinen Vater an. Er ist eigentlich nie über den Tod meiner Mutter hinweggekommen. Man hat mir gesagt, dass er nach ihr rief, als er letzten Monat starb. Er hat ihr einen Teil von sich selbst geschenkt und den hat er nie wiedergekriegt. Das soll mir nicht passieren.« Sie atmete tief ein. »Was ist meine dritte Angst? Am besten höre ich es mir gleich an und bringe die Sache hinter mich.«
»Herzog Roger von Conté.« Die Stimme der Göttin klang leise und sanft.
Alanna erstarrte. Schließlich flüsterte sie: »Ich habe keinen Grund, Herzog Roger zu fürchten. Nicht den geringsten.« Dann schlug sie die Hände vors Gesicht. »Grund habe ich keinen, ihn zu fürchten – aber ich tue es doch.« Sofern Alanna bisher noch einen Zweifel daran hatte, ob es auch wirklich die Muttergöttin war, die da vor ihr saß, so überzeugte sie jetzt die Tatsache, dass sie – fast gegen ihren Willen – so offen zu der Frau sprach. »Ich hasse ihn!«, rief sie plötzlich und hob das Gesicht. Es fühlte sich gut an, das nach so langer Zeit zu sagen. »Wisst Ihr, was ich glaube? Die Schwitzkrankheit hat damals alle Heiler so entkräftet, dass sie nicht mehr heilen konnten. Sie trat nur in der Hauptstadt auf – sonst nirgendwo – und Jon war der Letzte, der sie bekam. Man wusste, dass sie das Werk eines Zauberers sein musste. Man schickte nach Herzog Roger um Hilfe, aber keinem – weder dem König, noch Myles, Herzog Gareth oder Herzog
Baird –, keinem kam in den Sinn, Herzog Roger selbst könne diese Krankheit hervorgerufen haben! Thom sagt, Roger sei mächtig genug als Zauberer, sie auch von Carthak aus zu senden, wo er sich gerade aufhielt. Und Thom müsste sich ja eigentlich auskennen.«
Alanna erhob sich. Die Daumen fest in den Gürtel gehakt, ging sie unter der Weide auf und ab. »Als Roger prüfte, ob ich die Gabe besitze, fühlte sich mein Kopf ganz komisch an – als habe einer mit einem Stock in meinem Gehirn herumgestochert. Und Thom schrieb mir aus der Stadt der Götter, er stünde unter Beobachtung. Und letzten Sommer ...«
»Letzten Sommer?«, half die Göttin nach.
»Ich glaube nicht, dass Jonathan die Schwarze Stadt betreten hätte, wenn uns nicht Roger alle zusammengerufen hätte, um uns zu warnen, wie gefährlich es dort sei. Jonathan ist sehr verantwortungsbewusst, was die Tatsache betrifft, dass er der Thronerbe ist – er würde sein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Aber Roger trug einen großen blauen Edelstein um den Hals. Er drehte und wendete ihn, während er mit uns sprach, und die Lichtblitze, die dieser Stein ausstrahlte, machten mich schläfrig, bis ich schließlich den Blick abwandte. Mir kam es damals so vor, als sei Rogers Ansprache nur für Jonathan bestimmt – als wolle er ihn herausfordern, in diese Stadt zu gehen, obwohl er dort, wie Roger ganz genau wusste, sein Leben riskierte!« Seufzend lehnte sich Alanna an den Baumstamm. Sie fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. »Mit Jon kann ich nicht darüber sprechen. Einmal habe ich es versucht, aber er wurde wütend. Er hängt nämlich sehr an Roger. Der König mag ihn auch sehr. Roger sieht gut aus, er ist jung, klug und ein mächtiger Zauberer. Alle bewundern ihn. Keiner macht sich klar,
dass Roger Thronerbe ist, falls Jonathan etwas zustößt. Keiner außer mir.«
»Was willst du wegen dieser dritten Sache, die dich so ängstigt, unternehmen?«, erkundigte sich die Göttin und scheuchte das Kätzchen von ihrem Schoß.
»Ihn beobachten«, sagte Alanna müde. »Warten. Vor allem will ich ihn, so gut ich kann, im Auge behalten. Georg – der Dieb – wird mir helfen. Thom auch. Jedenfalls soweit es ihm aus der Entfernung möglich ist. Wenn meine Vermutung richtig ist, werde ich
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