Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Trümmern des Fasses hervor. Ihre roten Augen funkelten jetzt noch eindringlicher. Als sich ihre Blicke trafen, tönten ein schwaches Heulen und die uralten Schreie Sterbender in Tol’chuks Ohren. Er spürte, wie etwas von ihm selbst in diese feurigen Augen gezogen wurde. Hinter den Schreien hörte er jetzt ungebändigtes Lachen, zwei Stimmen, die in bösartigem Vergnügen vereint waren. Tol’chuks Sicht verschwamm, während er in eine Welt von blutgefleckten Türmen und dem Wehklagen der Verlorenen gezogen wurde.
Dann ergriff ein plötzlicher Todesschmerz Tol’chuks Brust; glühende Feuerhaken rissen an seinem Herzen.
Tol’chuk rang nach Luft. Er kannte diesen Schmerz; das Herz seines Volkes rief. Doch noch nie hatte er dies so stark empfunden. Die Lampe entglitt seinen tauben Fingern und fiel klirrend zu Boden. Flammen von brennendem Öl loderten zu seinen Schenkeln und zum Türrahmen hinauf. Die Todespein riss Tol’chuk zurück vom Sog des Abgrunds in den Augen des Rattendämons. Er versuchte, die Flammen mit stampfenden Füßen und um sich schlagenden Händen abzuwehren, aber in seinen Knochen tobte ein inneres Feuer.
Tol’chuk bemühte sich, trotz des Schmerzes Luft zu holen, und wich taumelnd zurück. Seine Hand fuhr tastend in den Beutel an seinem Schenkel, um zu versuchen, das Herz zu befreien. Seine Hand schloss sich um den Stein. Das Herz hatte ihn schon einmal beschützt: gegen den Angriff des Og’ers, der seinen Vater getötet hatte. Vielleicht würde es ihm auch jetzt helfen.
Er zog den Stein heraus, in der Erwartung, dass sein grelles rotes Licht ihn blenden würde. Er hielt sich den Stein vor die Augen und betrachtete ihn voller Verzweiflung. Das Herz war stumpf: kein Feuer, kein Lichtschein, nicht einmal ein Flackern. Er spürte die schreckliche Wahrheit durch die Fingerspitzen.
Das Herz war tot, seine Magik vergangen.
Inzwischen hatte die Ratte die Tür erreicht. Ihr glatter schwarzer Körper und die roten Augen wurden von den sich ausbreitenden Flammen der brennenden Lampe erhellt. Es hatte den Anschein, als sei sie größer geworden. Hinter ihr trippelte eine Horde weiterer Ratten von der gleichen Art wie die erste mit funkelnden Augen aus dem Nebel. Sie alle starrten Tol’chuk an, hunderte von glutroten Stecknadelköpfen.
Er konnte keinen Widerstand leisten, nicht gegen so viele Gegner. Ohne sich dessen bewusst zu sein, fiel Tol’chuk auf die Knie. Erneut verschwamm seine Sicht.
Schreie aus uralten Zeiten und wildes Gelächter tönten in seinen Ohren.
16
E lena sah Mikela an; dabei vergaß sie für einen Augenblick die Ranken des Moosgewächses, die ihre linke Hand fesselten. Sie betrachtete die Gesichtszüge der Frau und die überkreuzten Schwertgurte auf ihrem Rücken. Mikela war einst wie eine Tante für sie gewesen, doch jetzt war es, als stünde eine Fremde vor ihr. Sie konnte ihre Kindheitserinnerungen an ›Tante Mi‹ nicht mit den grausigen Enthüllungen über die Rolle, die Mikela als Sucherin der Schwesternschaft gespielt hatte, in Einklang bringen.
In der Zeit ihres Heranwachsens war Tante Mi eine der wenigen Frauen gewesen, die Elenas Freude an den verborgenen Pfaden und geheimen Schätzen, die die schlichten Obsthaine ihres heimatlichen Tals bargen, geteilt hatte. Während andere versuchten, ihr Interesse für Handarbeit und Kochen zu wecken, war Mikela Hand in Hand mit Elena durch die Felder spaziert. Sie hatten lange Gespräche geführt, und Elena hatte es gefallen, dass ihre Tante sie wie eine Erwachsene behandelt hatte, in jeder Hinsicht ehrlich, ohne irgendetwas zu verschleiern; sie hatte sie über das Leben aufgeklärt. Sie hatte Elena beigebracht, wie man sich lautlos zwischen den Bäumen bewegte, um eine Hirschfamilie zu beobachten, wie man ein Feuer mit einem Stock und ein wenig Zwirn entfachte, welche Wildpflanzen man bedenkenlos essen durfte, welche von ihnen heilende Kräfte besaßen und … und welche krank machten.
Elena erinnerte sich, und plötzlich erschauderte sie. Das Blatt des Schierlings, die Wurzel der Tollkirsche. Schon damals hatte sich Mikela mit pflanzlichen Giften sehr gut ausgekannt.
Mikela, wie stets wachen Blicks, bemerkte Elenas Verstörtheit. Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter, und als Elena versuchte, sich ihr zu entwinden, hielt sie sie fest. Ihre Worte waren jedoch an die anderen gerichtet. »Ich möchte, dass alle rausgehen«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Pläne über den Umgang mit den Bösewächtern
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