Alasea 02 - Das Buch des Sturms
den großen, weiß gewandeten Bruder gelenkt haben, der die Öffnung ausfüllte.
Der dunkelhäutige Mann warf grauen Staub in Brants rotes Gesicht. »Du wirst es niemandem mitteilen!« sagte der große Mann leise. »Jetzt schlaf!«
Brant wischte sich die Staubwolke vom Gesicht, dann sackte er schlaff zu Boden. Sein Kopf prallte auf den Stein.
Der Bruder schenkte dem bewusstlosen Jungen keine weitere Beachtung und trat mit einem großen Schritt über ihn hinweg. Er blickte zu Joach hinauf, sein silberner Ohrring glitzerte im Licht der Laterne. »Komm herunter, junger Mann, es ist an der Zeit, dass wir miteinander reden.«
Während sich das Morgengrauen näherte, stemmte sich Kast kräftig ins Ruder. Salzige Gischt spritzte ihm ins Gesicht, indes er schweigend, mit schmalen, blutleeren Lippen vor sich hin brütete. Flint weigerte sich immer noch, die Bedeutung der Worte zu erläutern, die er in der vergangenen Nacht ausgesprochen hatte. Wie konnte das Schicksal der sagenumwobenen Stadt A’loatal mit den Blutreitern verknüpft sein? Er hatte diese Insel noch niemals zu Gesicht bekommen und bezweifelte, dass sie überhaupt existierte.
Kast schüttelte den Kopf und schwenkte das Segel, um das Wendemanöver des Boots zu unterstützen. Auf sein geschicktes Wirken reagierend, bog das Schiff in den schmalen Kanal zwischen den beiden Inseln Tristan und Lystra ein. Die beiden vulkanischen Berge der Inseln erhoben sich zur Linken und zur Rechten, das Gestein ihrer Gipfel leuchtete rot in den ersten Sonnenstrahlen.
Das Mer’ai-Mädchen, das den Blick wie gebannt nach vorn gerichtet hielt, atmete vor Staunen laut ein.
Kast wusste, was sie so sehr beeindruckte. Direkt vor ihnen überspannte ein hoher Bogen aus verwittertem Stein den schmalen Kanal zwischen den Inseln, eine geschwungene Brücke aus Vulkangestein, von Wind und Regen geformt.
»Man nennt ihn ›Bogen des Archipels‹«, erklärte Flint dem Mädchen, wobei er sich am Bug näher zu ihr hinschob. »Hast du jemals eins der Lieder gehört, die ihn besingen? Lieder von den vom Schicksal schwer geprüften Liebenden Tristan und Lystra?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und wandte sich dem alten Mann zu.
Kast erkannt an Flints besorgten Blicken in Richtung des Seedrachen, dass er versuchte, das Mädchen von dem sich ständig verschlechternden Gesundheitszustand des Tieres abzulenken. Der Drache konnte kaum noch das Maul über die Wellen erheben; seine Augen waren trüb, und seine Flügel flatterten kraftlos, während er sich bemühte, mit der Geschwindigkeit des Schiffes mitzuhalten.
»Früher einmal«, fuhr Flint fort, »waren die beiden Inseln miteinander verbunden. Nur ein kleines Flusstal trennte die beiden Berge.« Er deutete auf die nördliche Insel. »Der junge Mann, Tristan, lebte unter den Stämmen, die die Hänge dieses Berges für sich beanspruchten, während Lystra die Tochter des Häuptlings jenes Stammes war, der sich zum Besitzer des südlichen Berges erkoren hatte. Die beiden Stämme führten häufig Krieg gegeneinander.« Flint schüttelte traurig den Kopf.
»Was geschah dann?« ermutigte Saag-wan ihn zum Weitersprechen.
»Eines Tages, als Tristan auf der Jagd war, traf er auf Lystra, die in dem Fluss zwischen den beiden Bergen badete. Sie sang so süß, während sie schwamm, dass er sich auf der Stelle Hals über Kopf in sie verliebte. Er versteckte sich in den Baumwipfeln und fügte seine Stimme der ihren hinzu, um ihr singend seine Liebe kundzutun. Verzaubert von seiner Musik, geriet Lystras Herz ins Schwanken, und sie rief Tristan zu sich. Im Wasser des Flusses umarmten sich die beiden Liebenden und hielten sich umschlungen, bis die Männer jedes Stammes die beiden auseinander zerrten.« Flint beugte sich ganz nah zu dem Mädchen und dämpfte die Stimme. »Doch ihre Liebe war nicht zu leugnen. Sie trafen sich zu mitternächtlichen Stelldicheins, und ihre Liebe wurde immer tiefer.«
Die Augen des Mädchens waren groß geworden.
»Dann wurde die verbotene Liebe entdeckt, und wieder wurden sie auseinander gerissen. Lystras Vater erwirkte einen Zauberbann, durch den das Meer anschwoll und die beiden Erhebungen voneinander trennte, sodass seine Tochter für immer von dem Sohn seiner Feinde fern gehalten wurde. Doch ohne dass der Vater es wusste, hatten sich Lystra und Tristan in jener Nacht, als der Zauberbann erwirkt wurde, am Fluss getroffen, um sich ein letztes Mal zu küssen. Während der Zauber seine Wirkung entfaltete, weigerten
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