Alasea 02 - Das Buch des Sturms
blattlos und lange tot, genau wie die Stadt selbst.
Ein verirrter Windhauch streifte Saag-wans Haut, sodass sie fröstelte. Sie zitterte, während das Boot näher zur Küste glitt. Zu beiden Seiten der Stadt ragten schroffe, kahle Klippen auf, und sie hatte den Eindruck, als wollten diese nach dem kleinen Boot greifen. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete sie die Welt der Landbewohner. Mit Ausnahme der wenigen Male, da sie sich auf einer einsamen Sandbank gesonnt hatte, war sie noch niemals auf festem Boden gegangen. Obwohl ihr das Herz bis in die Kehle schlug, war ein Teil von ihr freudig erregt ob der Gelegenheit, die Pfade zu erforschen, auf denen die Verbannten gewandelt waren. Sie betrachtete unverwandt die zahllosen Fenster der verlassenen Häuser. »Ich hätte nie gedacht, dass es so viele waren«, murmelte sie vor sich hin.
»Was hast du gesagt?« wollte Flint wissen.
Saag-wan zuckte verlegen unter seinem Blick zusammen, doch seine besorgten Augen lösten ihre Zunge. Sie fühlte sich ermuntert zu reden. »Ich habe mich nur gewundert, dass so viele Mer’ai zwangsweise aus dem Meer aufs Land versetzt worden sind.«
Die Augen des alten Mannes zogen sich kurz verständnislos zusammen, dann entspannte sich seine Miene belustigt. Er schmunzelte. »Ach, mein Kind, wer hat dich denn auf den Gedanken gebracht, dass die Küsten ausschließlich von verbannten Mer’ai bevölkert waren?«
Sie errötete unter seinem Lachen. Sie war teils wütend, teils peinlich berührt.
Er tätschelte ihr Knie. »Saag-wan, seit mehr als fünf Jahrhunderten hat kein Mer’ai mehr die Küsten des Archipels betreten.«
Der Schreck war ihrem Gesicht offenbar deutlich anzusehen. »Aber …?«
»Vor dem Untergang Alaseas lebten die Mer’ai und die Fischer an der Küste friedlich nebeneinander; sie ernteten die Früchte des Meeres in harmonischer Zusammenarbeit. Es war eine Zeit des Friedens und des gemeinsamen Wohlstands. Doch dann kamen die Gul’gotha-Horden und beanspruchten das Land; finstere Zeiten brachen an. Um dem Herrn der Dunklen Mächte zu entkommen, floh dein Volk vor der Verderbnis in die Tiefe des Ozeans, in ein ewiges Exil. Während der nun schon fünf Jahrhunderte dauernden Herrschaft des Herrn der Dunklen Mächte ist kein Mer’ai mehr an die Küsten Alaseas zurückgekehrt.«
Saag-wan rutschte auf ihrem Deckenstapel zurück, fassungslos über diese Worte und diese Geschichte. »Fünf Jahrhunderte? Aber die Verbannten meines Volkes, wo haben sie Zuflucht gesucht, wenn nicht an Land?«
Flint zuckte mit den Schultern, doch Saag-wan entging nicht, dass der alte Mann Kast ein raschen Blick zuwarf, bevor er sich abwandte. »Ich weiß es nicht, aber dein Volk war schon immer streng, was seine Strafen anging, unerbittlich wie das Meer selbst.«
Saag-wan zog sich die Decke fester um die Schultern und versank in Gedanken. Wohin waren die Verbannten denn nun wirklich gegangen, wenn sie nicht in die Welt von Stein und Fels vertrieben worden waren? Sie erinnerte sich daran, wie ein Drache, der der Leibgefährte einer verbannten Mer’ai war, viele Monate lang geschmachtet und wie das Meer von seinen furchtbaren Schreien widergehallt hatte. Die großherzigen Tiere verhielten sich sonst nur bei einem einzigen Anlass so: wenn ihr Leibgefährte starb.
Saag-wans Herz wurde kalt. Eine bittere Erkenntnis breitete sich in ihrer Brust aus. Tränen traten ihr in die Augen.
Wenn es stimmte, was Flint sagte …
Sie schluckte ein Schluchzen hinunter; ihr Herz war unfähig, seine Worte zu verdrängen. Wenn der alte Mann die Wahrheit sprach, dann waren jene, die das Gesetz der Mer’ai gebrochen hatten, nicht verbannt worden - sie waren getötet worden.
Sie erinnerte sich an das Wehklagen des Drachen und starrte hinauf zu den Klippen vor ihnen. Tränen trübten ihre Sicht, und ihr Magen zog sich zusammen. Auf einmal legte sie keinen so großen Wert mehr darauf, das Meer zu verlassen.
Hinter ihr sprach Kast in die Stille hinein. »Wie geht’s jetzt weiter, Flint?« fragte er. »Ich sehe keinen Hafen, keine Mole.«
»Die Anlegestege sind da drüben«, antwortete Flint und deutete zur anderen Seite der Stadt. »Aber wir fahren nicht zum Haupthafen. Zu viele Augen, zu viele Fragen.«
Kast hob sein Ruder aus dem Wasser.
»Wohin dann?«
Flint deutete zu einer der schroffen Klippen links von der Stadt. »Bring uns dorthin, Kast!«
Saag-wan hielt die Arme um den Bauch geschlungen, während das Boot in Richtung der hohen Felswand
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