Alasea 02 - Das Buch des Sturms
wann ein Tag einmal nicht anstrengend sein würde.
Mikela half ihr beim Ausbreiten der Schlafsäcke auf der Plattform vor Jastons Einraumhütte. Stirnrunzelnd betrachtete die Frau Jastons Behausung. Die Wände waren so schief, dass man befürchten musste, sie würden jeden Augenblick einstürzen, und die Vorhänge an dem einzigen Fenster waren zerschlissen und ausgefranst. »Einst besaß er ein viel schöneres Haus«, murmelte sie traurig. »Er hat es mit sich selbst nicht gut gemeint, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«
»Wieso?« wollte Elena wissen; sie rollte gerade ihren Schlafsack aus.
Ihre Frage erschreckte Mikela, als ob ihrer Tante nicht bewusst gewesen wäre, dass sie laut gesprochen hatte. Sie schüttelte den Kopf und kam zu Elena. »Ich fürchte, das ist meine Schuld. Ich hätte damals nicht versuchen sollen, zu der Hexe zu gelangen. Aber er war ein so tapferer Sumpfkundiger, voller Stolz und mit einem so gewinnenden Lächeln, dass es meine Bedenken vertrieb. Seine Narben …« - sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht - »… müssten eigentlich meine sein. Er hat mich gerettet, indem er sich dem Gift aus dem Kiefer der Königsnatter opferte.« Sie senkte den Blick. »Ich habe ihn nach Trockenwasser zurückgeschleppt und zu seiner Heilung beigetragen, aber ein Teil von ihm ist da draußen gestorben.«
Elena hielt in ihrem Tun inne. »Was willst du damit sagen?«
»Ich habe gesehen, wie er den Sumpf betrachtet hat. Früher liebte er den Sumpf, so wie ein Mann eine Frau liebt. Er kannte alle geheimen Pfade und Stellen. Er zeigte mir Dinge, die mir den Atem nahmen: Teiche von schimmernden Algen in allen Regenbogenfarben, Stellen, wo das Wasser dampft und brodelt und schmerzende Muskeln besänftigt, Bereiche, wo das Moos auf dem Wasser so dicht wächst, dass man darauf wandeln kann. Einmal haben wir sogar auf einem dieser Betten …« Mikelas sanftes Lächeln wich, als ihr bewusst wurde, mit wem sie sprach. »Doch jetzt ängstigt der Sumpf ihn, beraubt ihn seiner Kühnheit. Ich vermute, die armselige Behausung hat etwas mit dieser Angst zu tun. Einem Sumpfbewohner geht es nicht gut, wenn sein Lebensraum ihm Angst macht.«
Elena fiel wieder ein, wie sich Jastons Gesicht beim Brummen des großen Sumpftiers verfinstert hatte, wie der Funke der Angst in seinen Augen aufgelodert war. »Warum geht er dann nicht einfach weg von hier?«
Mikela zuckte mit den Schultern. »Ich möchte wetten, seine Narben haben etwas mit dieser Entscheidung zu tun. Er war einst ein gut aussehender Mann.« Sie hatte offenbar den Zweifel in Elenas Augen gesehen. »Wirklich, war er. Ich glaube, seine Wunden gehen viel tiefer. Die Narben zeichnen nicht nur seine Haut. Er versteckt sich jetzt hier, voller Angst wegzugehen, voller Angst zu bleiben.«
Elena dachte über die Worte ihrer Tante nach. »Ist er in der Lage, uns zu der Hexe zu führen? Vielleicht wäre ein weniger verängstigter Führer besser.«
»Nein. Er wurde von der Hexe auserwählt, genau so wie du auserwählt wurdest. Er muss diese Reise unternehmen.« Dennoch ließ Elenas Frage Mikela anscheinend keine Ruhe. Sie wandte sich ab und sagte: »Lass uns schlafen. Morgen früh haben wir noch genügend Zeit zum Reden.«
Elena widersprach nicht. Sie zog sich die Stiefel aus und schlüpfte in ihren Schlafsack. Sie lag auf dem Rücken neben Mikela und grübelte über all die Dinge nach, die sie an diesem Tag erlebt und erfahren hatte. Um sie herum hatte sich der Nebel gehoben und war mit dem Hereinbrechen der Nacht dünner geworden. Der Mond und die Sterne waren schwach am Himmel zu erkennen. Im Norden waren die Sterne durch die hoch aufragende Felswand des Landbruchs verdeckt. In der Ferne, beleuchtet vom Mondschein, fiel ein Wasserfall wie ein Strom aus Silber über die schwarze Klippenwand. Elena fragte sich, ob dies der Fluss war, dem sie bis zum Landbruch gefolgt waren. Während sie so in Gedanken versunken nach oben schaute, bewegte sich der Dunstschleier. Plötzlich krönte ein sanft schimmernder Bogen aus Mondlicht den Dunst des Wasserfalls.
Mikela musste Elenas leises Hauchen des Erstaunens gehört haben. »Das ist ein Mondbogen«, erklärte sie nüchtern. »Wie ich bereits sagte, gibt es hier viel verborgene Schönheit, eine innere Großartigkeit, die selbst das Gift des Sumpfes nicht für immer überlagern kann.«
Elena schwieg. Sie wusste, dass sich die Worte ihrer Tante nicht nur auf den leuchtenden Mondbogen bezogen.
26
Noch
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