Alasea 02 - Das Buch des Sturms
bevor die Sonnenstrahlen den Himmel im Osten rosa färbten, war Er’ril auf den Beinen. Er hatte kaum geschlafen. Nachdem er von Jastons Kahn zurückgekehrt war, war er in seinen Schlafsack geschlüpft, zufrieden mit den Reisevorbereitungen, die ihr Führer getroffen hatte. Dennoch hatte er keinen Schlaf gefunden. Stattdessen hatte er im untergehenden Mond den Nebel beobachtet und dem unaufhörlichen Lied des Sumpfs gelauscht.
Nagende Sorgen hatten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Die Reise, die vor ihnen lag, war tückisch, und Er’ril fürchtete, er könnte die falsche Entscheidung getroffen haben. Warum hatte er so bereitwillig Mikelas Behauptung geglaubt, dass nur diese Sumpfvettel Elena heilen konnte? Er hätte die Kleine nach A’loatal bringen können, damit dort diese Brüder, die die Kunst des Heilens ausübten, versuchten, sie von der Verhexung zu befreien. Stattdessen war hier jetzt dieser Mann mit dem völlig vernarbten Gesicht ausgeschickt worden, um sie zu der Hexe zu bringen. Er’ril hatte tausende von Kriegern am Vorabend einer Schlacht erlebt. In einer solchen Situation waren so manchem tapferen Mann der Kampfeswille und der Mut abhanden gekommen, und Er’ril hatte das Gefühl, dass sich eine solche Schwäche auch Jastons bemächtigt hatte. Er’ril hatte darauf bestanden, den Kahn des Mannes zu besichtigen, nicht nur um die Vorräte zu prüfen, sondern auch um den Mann eingehender zu erkunden, und zwar ohne Mikelas Anwesenheit. Er war klug genug, derartige Bedenken der Schwertfrau gegenüber nicht zu äußern, da sie und Jaston offenbar eine Vergangenheit teilten, die über das Verhältnis Sucherin - Führer hinausging. Deshalb hatte er eine Situation herbeigeführt, in der er mit dem Mann allein sein konnte.
Als Er’ril das Flachbodenboot in Augenschein nahm, hatten sich seine Bedenken als begründet erwiesen. Abgesehen davon, dass Jaston das Boot mit mehr Waffen bestückt hatte, als nötig erschien, war der Mann das reinste Angstbündel. Beim geringsten Geräusch zuckte er zusammen, und als Er’ril ihn versehentlich seitlich streifte, machte der Mann einen Satz, als ob er gestochen worden wäre. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Jaston im Grunde seines Herzens ein Feigling war und sich bei einer so gefährlichen Reise als schlechter Führer erweisen würde.
Dann, nach der Rückkehr von dem Boot, hatte Er’ril wach in seinem Schlafsack gelegen und die Möglichkeiten überdacht. Er konnte entweder diesem verängstigten Mann in den Sumpf folgen oder früh mit Elena aufbrechen und zu Pferd entlang des Landbruchs zur Küste reiten. Während er so gegrübelt hatte, waren der Mond untergegangen und die Sterne im Osten verblasst. Schließlich hatte er das sinnlose Bemühen um Schlaf aufgegeben, war aus seinem Schlafsack geschlüpft und hatte dem nahenden Morgen entgegengesehen, ohne einer Antwort auf seine nächtlichen Fragen auch nur im Geringsten näher gekommen zu sein.
Nun trat Er’ril vorsichtig um seine schlafenden Gefährten herum. Ferndal, der stets Wachsame, hob den Kopf und spähte mit leuchtenden Augen in die Nacht, doch Er’ril gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, er solle sich wieder hinlegen, und ging in den dunklen hinteren Teil des umlaufenden Balkons des Pfahlbaus. Während er seine Blase über das Geländer erleichterte, räusperte sich jemand hinter ihm - nicht warnend, sondern nur, um seine Anwesenheit kundzutun. Er’ril blickte sich über die Schulter um und sah eine glühende Pfeife in der Dunkelheit hinter Jastons Hütte.
»Ich bin es nur«, sagte der Mann. Er’ril erkannte die Stimme des Narbigen. »Bis zum Tagesanbruch ist es noch eine Weile hin, Präriemann. Du hättest länger schlafen können. Ich hätte dich bei Sonnenaufgang geweckt.«
Er’ril beendete seine Verrichtung und ging zu Jaston, der rauchend in der Dunkelheit saß. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Das Holz ächzte und bog sich unter seinem Gewicht. »Ich konnte sowieso nicht schlafen«, erwiderte er mürrisch. Der Kleidung und der müden Stimme des anderen Mannes nach zu urteilen, bezweifelte er, dass Jaston seinerseits geschlafen hatte.
»Daran ist der Sumpf schuld. Er ist allgegenwärtig. Selbst wenn du die Augen schließt, malt er sich mit seinen Geräuschen auf dein inneres Auge.« Der Mann schüttelte sich.
Er’ril rutschte an der Wand hinunter und setzte sich neben Jaston. Der Mann bot ihm seine Pfeife an. Er’ril nahm einen tiefen, ausgedehnten Zug. Der
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