Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Zeichen!«
Unwillkürlich folgte Joachs Blick dem deutenden Arm des Mannes. Er sah eine hängende, purpurrote Blüte inmitten eines Blätterbüschels. Die Blütenblätter schienen zu glühen - wahrscheinlich eine Täuschung durch das Licht.
Doch als sich seine Augen auf die Blüte hefteten, überkam eine wundersame Ruhe sein pochendes Herz. Wie die Berührung der Sommersonne nach einem Tauchgang in das tiefe, eisige Wasser des Torgrat-Sees erwärmte sie seinen ganzen Körper. Joach begriff, dass hier der Schlüssel lag, der ihn aus der Gefangenschaft befreit hatte. Er wusste nicht, wie oder warum, sondern nur, dass irgendeine Magik in dieser leuchtenden Blüte seine Fesseln gelöst hatte.
Während er sich noch mit diesem Gedanken beschäftigte, brachen die Blütenblätter auseinander, als wollten sie seine Vermutung bestätigen, und schwebten wie purpurne Schneeflocken zu Boden, nachdem ihre Pflicht erfüllt war. Ein Seufzer des Bedauerns wallte wie Nebel aus der Menge um ihn herum auf. Offenbar hatte man allgemein ein ganz großartiges Ereignis erwartet, und nun, da das Abfallen der Blütenblätter das Ende des Wunders anzeigte, war die Enttäuschung in den Stimmen nicht zu überhören.
»Es ist vorbei«, sagte der Mann neben Joach. Die Hand des Bruders ließ vom Arm des Jungen ab.
Plötzlich ertönte Greschyms Stimme in seiner Nähe. »Lass meinen Jungen in Ruhe«, fauchte er den dürren Bruder an doch der Stimme des Dunkelmagikers fehlte das übliche Feuer, vielmehr klang sie beunruhigt, beinahe ängstlich. Einige Herzschläge lang starrte er die fallenden Blütenblätter an. Als er sich endlich davon abwandte, schwenkte er seinen Stock und warf einen flüchtigen Blick zu Joach, jedoch ohne den Jungen richtig zu sehen. Seine Stimme hatte wieder ihren üblichen scharfen Ton, als sich die letzten Blütenblätter am Boden niederlegten. »Lass den armen Jungen in Ruhe! Er begreift das alles nicht.«
»Nun, ich auch nicht«, entgegnete der andere Mann. »Du bist der Älteste im Orden, Bruder Greschym. Was hältst du von diesen Ereignissen?«
»Das sind nur Echos aus der Vergangenheit«, murmelte er missmutig. »Erinnerungen im toten Holz, wie ein Traum, der an die Oberfläche steigt. Nichts, worüber man sich so sehr erregen müsste.«
Bei den abwertenden Worten sackten die dürren Schultern des Bruders herab, und das Funkeln in seinen Augen erlosch. »Wahrscheinlich hast du Recht«, antwortete er traurig. »Trotzdem will ich versuchen, eins der Blütenblätter aufzuheben, bevor die anderen sie alle weggeschnappt haben.«
Joach stellte fest, dass die Brüder sich um den Stamm des großen Baumes gedrängt hatten und in ehrfurchtsvoll gebückter Haltung die herabgefallenen Blütenblätter einsammelten.
»Komm!« sagte Greschym zu Joach, da der andere sich von ihnen entfernte. Der Dunkelmagiker wandte dem Geschehen den Rücken zu und stapfte durch den Garten zurück. »Folge mir!« befahl er.
Joach merkte, dass seine Füße folgten, doch nicht wegen eines Banns, sondern weil er nicht wusste, was er sonst hatte tun sollen. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass der Dunkelmagiker immer noch dachte, Joach sei sein Sklave, ein Leibeigener, seinen Worten und Befehlen hörig. Der Mann war weitestgehend blind für Joachs Anwesenheit und bemerkte anscheinend gar nicht dessen neues Zögern oder irgendwelche ungewöhnlichen Bewegungen.
Unterwegs ging Joach flüchtig der Gedanke durch den Kopf, ob er nicht den anderen Brüdern zurufen und ihnen offenbaren sollte, welche Schlange unter ihnen weilte. Doch Bedenken veranlassten ihn, den Mund zu halten. Die anderen hielten ihn für einen schwachsinnigen Narren. Wer würde ihm glauben, dass nicht nur ein ehrenwertes Mitglied ihres Ordens, sondern außerdem kein Geringerer als ihr Oberhaupt, der Prätor, unter der Herrschaft des Großen Gul’gothas stand? Und selbst wenn er sie überzeugen könnte, was wäre, wenn es noch andere Dunkelmagiker gäbe, von denen Joach nichts wusste? Wenn der Prätor, das Oberhaupt des Ordens, dem schwarzen Reich des Herrn der Dunklen Mächte angehörte, dann gab es bestimmt noch andere, für die das Gleiche galt. Am Ende würde Joach möglicherweise nur den Kopf des Unkrauts abhacken und die Wurzel unversehrt lassen. Derlei Bedenken geboten ihm zu schweigen.
Ein anderer Plan reifte in seinem Kopf, während er hinter der weißen Kutte herschlurfte. Seine Beine waren durch das ständige Hungern geschwächt, und es war nicht schwer, seinen
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