Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Baumes.
Rings um ihn herum flüsterten Stimmen betend und staunend. Direkt über ihm - Greschym musste den Kopf weit in den Nacken legen - endete ein tief hängender Ast in einem kleinen Büschel grüner Blätter.
Greschym verzog das Gesicht. Es war beinahe zwei Jahrzehnte her, seit an dem Baum irgendetwas gesprossen war. Ein auf Abwege geratener Windhauch zauste an den Blättern, deren silberhelle Unterseiten in der Sonne blitzten und tanzten. Bei diesem Anblick lief ein ehrfürchtiges Raunen durch die Menge.
War es das, was sie alle hergelockt hatte? Greschym gab seiner Missbilligung Ausdruck, indem er ein finsteres Gesicht machte. Ein paar Blätter!
Er war im Begriff, sich abzuwenden, als ihm Helligkeit in die Augen stach. Zwischen den Blättern blitzte ein Farbfunke auf - wie ein Edelstein, der in einem wogenden Meer aus Grün und Silber aufleuchtete. Eine purpurne Blüte! Eingerollt und im Schlummer geschlossen, schaukelte sie sanft auf ihrem Ast.
Greschym stand vor Schreck starr da, seine trüben Augen bemühten sich zu erfassen, was sie sahen. Der Koa’kona-Baum hatte seit über hundert Wintern nicht mehr geblüht. Und doch war es so. In der Meeresbrise wogte ein einsames Juwel aus ferner Vergangenheit.
Er trat einen Schritt zurück. Plötzlich spürte er etwas - es war wie ein kalter Schauder, der einem übers Rückgrat jagt und die kleinsten Härchen aufstellt. Er trat noch einen Schritt zurück und prallte gegen den Jungen, der in seiner Allgegenwart hinter ihm stand. Greschym war zu verdattert, um zu schimpfen, sondern scheuchte den Jungen lediglich weg, während er weiter zurückwich. Doch das eisige Gefühl von Gefahr schlich ihm hinterher. Er erkannte seine Unruhe - und ihre Ursache. Hier handelte es sich um chirische Macht, weiße Magik, die dieser leuchtenden Blüte entströmte. Er hatte deren Berührung seit unendlicher Zeit nicht mehr gespürt.
Voller Erregung stolperte er zurück, wobei sein Stock ihm gegen die Knie und Schienbeine stieß, während die Menge nach vorn strömte; plötzlich wurden ihre Stimmen vor Staunen lauter.
»Süße Mutter!« rief jemand hinter ihm.
»Ein Wunder!« rief jemand anders verzückt.
Rings um ihn ertönten Stimmen, hallten solche und ähnliche Worte wider. Irgendwo läutete eine Glocke.
Greschyms Herz tobte in der Brust, sein Atem stockte. Er erstarrte vor Entsetzen.
Dort oben am Baum öffneten sich die Blütenblätter langsam. Ein sanftes Licht schimmerte aus ihrem Herzen und tauchte sie in einen weichen, azurblauen Schimmer.
Greschym erkannte dieses sanfte Strahlen.
Es war das Licht Chis.
Joach stolperte rückwärts, als der Dunkelmagiker ihn von dem Baum wegscheuchte. Wenn nicht der Druck durch die anderen weiß gewandeten Brüder gewesen wäre, wäre er über die eigenen Füße gefallen. Seine Beine fühlten sich taub an und kribbelten wie von tausend Nadelstichen. Er griff nach dem Ärmel eines in der Nähe stehenden Bruders, um sich daran festzuhalten, doch auch seine Finger waren taub und kribbelten und versagten ihm den Dienst, sodass ihm der Stoff aus der Hand glitt.
Ein ersticktes Keuchen entrang sich seiner Kehle, als ihm klar wurde, was hier geschah. Zum Glück ging sein rasselnder Atem in dem Durcheinander von erhobenen Stimmen ringsum unter. Niemand blickte in seine Richtung. Sein Sichtfeld war beinahe vollkommen dunkel, während er zaghaft seine Glieder bewegte. Als Erstes trat er einen Schritt zurück, dann hob er sich die Hand vors Gesicht und ballte sie zur Faust.
Frei! Süße Mutter, er war aus seiner Gefangenschaft befreit! Sein Körper gehörte wieder ihm.
Das Kribbeln verging sehr schnell, bis nur noch ein schwaches Ziehen an seinen Knochen spürbar war; der Bann, der auf ihm gelegen hatte, war gelöst. Joach, der nicht genau wusste was ihn befreit hatte, setzte seinen Rückzug durch die Menge weiter fort; der Dunkelmagiker wich mit ihm zurück. Bis jetzt hatte Greschym die Veränderung noch nicht bemerkt.
Ein dürrer, weiß gewandeter Bruder wandte sich ihm zu, als er ihn im Vorbeigehen anrempelte. Der Mann hatte die Augen weit aufgerissen, seine Stimme war belegt, er stieß die Worte atemlos hervor: »Ein Wunder! Spürst du nicht die Magik?«
Joach wusste nicht, wovon der Narr redete. Er versuchte zu fliehen, doch der Mann hielt ihn aufgeregt am Arm fest. » Sieh nur!« sagte der Bruder und deutete mit der freien Hand zu den Zweigen des großen Baumes. »Die Blüte geht bei Tag auf! Das ist ein
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