Alasea 02 - Das Buch des Sturms
bisherigen mühsam schleppenden Gang nachzuahmen. Was wäre, wenn …? Je mehr er über den Plan nachgrübelte, desto fester wurde sein Entschluss. Greschym schenkte Joach so gut wie keine Aufmerksamkeit; nur hin und wieder warf er einen gedankenverlorenen Blick auf ihn, ohne ihn eigentlich zu sehen. Und Joach, der so viele Monate lang in seinem Kopf gefangen gewesen war, hatte gelernt, was von ihm erwartet wurde und wie er sich zu verhalten hatte. Konnte er nicht weiterhin den von einem Bann belegten Sklaven des Dunkelmagikers spielen? Und auf diese Weise mehr über Greschyms Absichten erfahren?
Wenn er nichts erfahren würde, konnte er immer noch Möglichkeiten erforschen, um von der Insel zu fliehen. Doch im Herzen wusste Joach, dass er niemals die Flucht ergreifen würde - zumindest nicht allein.
Er rief sich das Gesicht seiner Schwester Elena ins Gedächtnis: die Sommersprossen auf der Nase, die zusammengekniffenen Augen beim angestrengten Nachdenken. Er hatte keine Ahnung, wo im großen Alasea seine Schwester sich derzeit aufhalten mochte, aber er wusste, dass Elena nach A’loatal unterwegs war. Wenn er sie nicht finden und warnen konnte, damit sie wegbliebe, konnte er zumindest insgeheim in Erfahrung bringen, welche Fallen ausgelegt wurden, und versuchen, diese unschädlich zu machen.
Also schlurfte Joach hinter dem gebeugten Rücken des Dunkelmagikers her. Er würde Feuer mit Feuer bekämpfen, Betrug mit Betrug. Wenn Greschym und der Prätor falsche Gesichter zeigten, dann würde er das ebenfalls tun.
Elena, flüsterte er im Kopf, ich werde dich nicht noch einmal enttäuschen.
Für einen Augenblick erschien die purpurrote Blüte vor seinem geistigen Auge und leuchtete in seiner Erinnerung noch viel heller als zuvor in Wirklichkeit. War es reiner Zufall gewesen, dass er befreit worden war? Oder gab es, vergleichbar mit den schwarzen Schlangen, die sich in den weißen Falten von A’loatal versteckten, womöglich Verbündete des Lichts, die ihm helfen könnten?
Hinter Greschyms Rücken sah sich Joach heimlich in dem Innenhof um. Schatten und Sonnenlicht tanzten auf den Wegen des verwilderten Gartens. Hell und Dunkel vermischten sich.
Wenn es da draußen irgendwo andere Leute gäbe, die ihm helfen könnten, wie sollte Joach sie in diesem Spiel von Licht und Schatten erkennen?
Wem konnte er trauen?
Irgendwo jenseits der hohen Mauern der Burg schickte eine Möwe einen einsamen Schrei über das weite Meer. Der Schrei hallte in Joachs Brust wider.
Er wusste, dass er diese Sache allein würde durchstehen müssen.
12
Der Schrei der Möwe schwebte über die Wellen zu der Stelle, wo Saag-wans kleiner Kopf in der sanften Brandung hüpfte. Ihre Augen folgten dem Flug des Vogels am blauen Himmel. Während ihre mit Schwimmhäuten versehenen Hände im Salzwasser vor und zurück paddelten und sie auf der Stelle hielten, stellte sie sich die verschiedenen Landschaften vor, über die die Möwe geflogen war. Sie dachte an hoch aufragende Türme, finstere Wälder und grüne Wiesen, weiter als das Meer. Es wurden viele Geschichten erzählt über derartige Orte, aber sie hatte noch nie einen davon gesehen.
Sie legte den Kopf in den Nacken, um die Weite des Himmels und die Wolken zu betrachten; ihr grünes Haar schwamm wie ein Kranz aus Riementang um sie herum. Die Möwe entschwand in den Strahlenkranz der Sonne, bis sie nur noch als Punkt zu sehen war. Seufzend wandte Saag-wan ihre Aufmerksamkeit wieder der brodelnden weißen Brandung zu, wo das Meer zornig an die Küste der nahe gelegenen Insel klatschte. Weiße Schaumfetzen gischteten hoch hinauf ins nachmittägliche Sonnenlicht, und schwarzes Felsgestein schimmerte wie Walfischrücken, während der Ozean brüllte und die Insel angriff, als ob er sich über die Unterbrechung seiner blauen Fläche ärgerte.
Saag-wan faszinierte der Krieg zwischen Meer und Fels. Dieses Schauspiel berührte etwas tief in ihrem Inneren, etwas, das sie nicht benennen konnte. Sie betrachtete die Insel. Ihre Augen nahmen den Anblick der mit Grün geschmückten Gipfel, der reißenden Wasserfälle, die der Frühling reichlich genährt hatte, und der Felsbogen aus verwittertem Gestein in sich auf. Hinter dieser einen Insel waren weitere zu sehen wie die Buckel großer Seetiere, die zum Horizont schwammen.
Der Archipel.
Allein schon das Wort, das diese Vielzahl von Inseln bezeichnete, bereitete ihr Herzklopfen. Dahinter verbargen sich Geheimnisse und unbekannte
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