Alasea 02 - Das Buch des Sturms
zerrte.
Vielleicht war es nur ihr dickköpfiges Naturell, das sich gegen die sie einschränkenden Vorschriften ihrer Mutter auflehnte. Nach ihrem ersten Ausflug in die Nähe der Inseln hatte ihre Mutter ihr mit Nachdruck verboten, sich jemals wieder zu dem Archipel vorzuwagen. Sie hatte sie vor den Fischersleuten mit ihren Speeren gewarnt und ihr Geschichten erzählt, wie die Geächteten - voller Zorn wegen des Verlustes ihrer eigentlichen Heimat - Mer’ai auf die Felsen und damit in den Tod zu locken pflegten. Sie hatte ihre Mutter noch nie so außer Fassung gesehen: mit brüchiger Stimme und roten, fast wilden Augen. Während Wut und Enttäuschung die Worte ihrer Mutter erstickt hatten, hatte Saag-wan nur genickt, die Augen brav gesenkt und die Zerknirschte gemimt. Doch sobald ihre Mutter weg war, hatte Saag-wan ihre Warnung buchstäblich in den Wind geschlagen.
Keine Worte, nicht einmal in höchstem Zorn gesprochen, konnten die Leinen durchtrennen, die sich so traulich in Saag-wans Herz verhakt hatten. Also stahl sie sich gegen den Willen ihrer Mutter häufig davon und schwamm allein zum Rand des Archipels. Dort ließ sie sich in der Strömung treiben und betrachtete die Inseln, die von Wind und Wasser geformt worden waren. Neugierig hielt sie nach Anzeichen Ausschau, die auf die Geächteten hingewiesen hätten; einmal schwamm sie sogar in Sichtweite eines ihrer Fischerboote. Doch immer, wie auch jetzt, folgte Conch irgendwann ihrem Geruch und kam herbei, um sie zurückzuholen in ihre leviathanische Heimat, die langsam in jenem Teil des Meeres schwamm, der Große Wasserwelt genannt wurde.
Der Seedrache, der Saag-wan derartig liebte, war verschwiegen, was ihre heimlichen Ausflüge betraf: Nicht einmal ihre Mutter erfuhr etwas davon. Saag-wan ahnte, wie schwer es für den liebenswerten Riesen sein musste, gegenüber dem Wesen, dem er durch Bande verpflichtet war, ein Geheimnis zu wahren. Da ihr klar war, wie sehr er darunter litt, beschränkte sie ihre Ausflüge zu den Inseln auf gelegentliche Besuche. Trotzdem. Sie drehte sich um und blickte noch einmal zurück zu der Insel, während Conch eine Kehrtwende machte. Sie würde wiederkommen.
Saag-wan rieb den Hals des Drachen, um ihm mitzuteilen, dass sie zum Aufbruch bereit war.
Conch pustete den letzten Rest verbrauchter Luft aus seinen Lungen. Dann schwoll unter ihr die Brust des Seedrachen an, während er die frische Brise einsog und sich aufs Tauchen vorbereitete.
Bevor er untertauchte, pflückte Saag-wan eine luftgefüllte Tangschote in ihrer Reichweite und biss in den klebrige Stängel. Er schmeckte nach Salz und Algen. Sie atmete tief ein, um seine Reife zu prüfen. Die Luft war noch gut. Selbst wenn die Schote ausgelaugt wäre, wäre sie nicht gefährdet. Saag-wan wusste, Conch würde sie den Schnorchel an seinem Halsansatz benutzen lassen. Obwohl die Tradition es nur in einem durch Bande gefestigten Verhältnis gestattete, an der Luft eines Drachen teilzuhaben, hatte Conch Saag-wan noch nie abgewiesen.
Saag-wan schlüpfte mit den Füßen in die Falten hinter seinen Vorderbeinen, und Conch zog die Haut zusammen, damit sie nicht herausrutschen konnte.
Zufrieden klopfte sie Conch dreimal sanft mit dem Handballen auf den Rücken, um ihn wissen zu lassen, dass sie bereit war loszureiten. Ein Beben erschütterte das große Tier, und die massige Gestalt sank mit Saag-wan unter die Wellen. Als das Wasser ihr ins Gesicht schwappte, schnappten Saag-wans innere Lider zu, sodass ihre Augen gegen das Salzwasser geschützt waren. Die durchsichtigen Membrane ermöglichten ihr eine ziemlich scharfe Sicht in dem schlickigen Wasser.
Nachdem sich der Schwall blubbernder Blasen geklärt hatte und nur ein paar Nachzügler übrig geblieben waren, die sie in die Tiefe verfolgten, betrachtete Saag-wan voller Ehrfurcht das Geschöpf, auf dem sie ritt. Von der Nase bis zum Schwanz maß Conch mehr als sechs Männerlängen. ›Drache‹ war das bei den Mer’ai gebräuchliche Wort für diese großen Wesen, die mit ihnen in der Welt unter den Wellen lebten, und obwohl die Seedrachen ihren eigenen Namen für sich selbst hatten, fand Saag-wan die Bezeichnung ihrer Leute sehr passend. Flügel breiteten sich zu beiden Seiten aus, als Conch die vorderen Glieder weit streckte. Sanfte, doch kräftige Bewegungen kräuselten die Flügel, während der Drache durchs Meer glitt. Sein schlangenartiger Schwanz und die krallenbewehrten Hinterbeine dienten als wirkungsvolle Ruder, die sie in
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