Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Länder - verbotenes Territorium für die Mer’ai. Nur die Verbannten ihres Volkes wandelten an diesen zerklüfteten Küsten und auf den schroffen Felsen.
Während sie mit den kräftigen Beinen trat, um den Kopf über Wasser zu halten, spürte sie die vertraute sanfte Berührung einer warmen Nase an der Hinterseite ihres Schenkels. Traurig spreizte sie die Beine, um Conch, dem Reittier ihrer Mutter, zu erlauben, unter sie zu gleiten. Sobald er sie auf sich spürte, wölbte Conch den Rücken und hob Saag-wan höher. Bald berührten nur noch ihre mit Schwimmhäuten versehenen Zehen das Meer. Von Conchs Rücken aus konnte sie hinter dem zerklüfteten Küstenstreifen das Innere der Insel erblicken. Über den Schaum und die Gischt hinweg erspähte sie die Türme und kantigen Gebäude der Landbewohner, jener Mitglieder ihres Volkes, die vor langer Zeit aus dem Meer verbannt worden waren.
Sie reckte die Arme hoch und fing die Meeresbrise in ihren gespreizten Händen. Wie es wohl wäre, durch die Luft zu segeln wie eine Möwe, zwischen diesen Türmen hindurchzufliegen und in die Fenster zu lugen, um jene zu beobachten, die ein Leben am Rande des Meers führten? Fehlte ihnen der Ozean so sehr, dass sie die ganze Nacht weinten, wie ihre Mutter behauptet hatte?
Vor ihr tauchte Conchs Kopf unter Wasser. Der jadegrüne, geschuppte Hals des Seedrachen schimmerte im Sonnenlicht. Er schnaubte heftig, als sich die ebenfalls geschuppten Klappen, die seine Nase verschlossen hielten, öffneten und verbrauchte Luft ausstießen. Er verdrehte ein großes schwarzes Auge zu seiner Reiterin und blinzelte mehrmals mit dem durchsichtigen Lid.
Saag-wan schrumpfte unter seinem Blick zusammen.
Obwohl ihre Bande zu dem Drachen nicht so stark waren wie die ihrer Mutter, deren Leibgefährte er war, war Saag-wan mit ihm aufgewachsen und hatte seine Launen kennen gelernt. Conch ärgerte sich über sie. Er hasste es, wenn sie in die Nähe der Felseninseln schwamm, die im Meer verstreut lagen. Doch das Beben der Erleichterung in seiner Kehle, als er die schale Luft ausstieß, verriet ihr auch die Sorge und die Angst, die das große Tier um sie hatte.
Sie fuhr ihm mit der Hand über den langen, schlanken Hals und kraulte die besonders empfindsamen Schuppen an seinen Ohrlöchern. Ihre Berührung dämpfte seinen Ärger. Sie lächelte, als er sich abwandte. Conch hatte sich schon immer so viele Sorgen um sie gemacht. Schon als sie noch ein Kind war, hatte er stets über sie gewacht, ein allgegenwärtiger Schatten, während sie zur jungen Frau heranwuchs. Doch Conchs Fürsorge würde bald aufhören, so sehr es sie auch schmerzte. Saag-wan musste sich bald ihren eigenen Drachen verpflichten und Conch zurücklassen. Nachdem bereits ihre weiblichen Blutungen eingesetzt hatten, war sie kein Kind mehr. Während der vergangenen zehn Monate hatten sie bereits etliche heranreifende Seedrachen umschwärmt, angezogen von jeder jungfräulichen Monatsblutung, manche weiß, manche rot, einige sogar jadegrün wie Conch. Doch sie hatte sie alle abgewehrt. Als Tochter eines Mitglieds des Ältestenrats kannte sie ihre Pflicht und würde sich bald entscheiden müssen, aber noch war sie nicht ganz bereit.
Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie wollte Conch nicht verlieren, niemals - nicht einmal, um sich einen der seltenen Schwarzen zu verpflichten, die mächtigsten aller Seedrachen.
Nach dem Tod ihres Vaters war Conch ihr Beschützer geworden - und ihr Kamerad. Sie konnte sich an ihren wirklichen Vater kaum erinnern. Sie hatte nur ein undeutliches Bild von ihm vor Augen: lachende Augen und warme, kräftige Arme. Und ihre Mutter, die zu sehr von ihren Pflichten als Mitglied des Ältestenrates in Anspruch genommen war, verließ selten den Sitz ihres Stammes im Bauch eines riesigen Leviathans, jenes walähnlichen Wesens, das ihren Mer’ai-Clan beherbergte. Da sie keine Geschwister hatte, machte Saag-wan bald die Erfahrung, wie leer die Meere sein konnten. Selbst die Meeresberge und die gefährlichen Korallenriffe hatte sie allein erkundet, nur in Begleitung von Conch.
In letzter Zeit hatte sie festgestellt, dass sie sich zu den Inseln hingezogen fühlte. Ob das an ihrer zunehmenden Unruhe aufgrund ihres neu entstehenden Frauseins und der damit verbundenen Verantwortung lag oder einfach an einer zunehmenden Unzufriedenheit mit dem leeren Meer, vermochte Saag-wan nicht zu sagen. Sie wusste keine Worte für das ständige Sehnen, das an ihrem Herzen
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