Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Drachen verdeckt war. Sie trieb in seinem Schatten, gelangte zu seiner Unterseite und betastete das Netz. Die geölten Seile und Knoten hatten sich tief in Conchs Fleisch gegraben. Blut sickerte aus den Wunden, wo die engen Seile die Haut aufgeschnitten hatten. Ein tiefer Riss in einer Falte eines gequetschten Flügels blutete in der Nähe ihrer Hand. Unwillkürlich streckte sie die Finger zu der Verletzung aus, als ob durch die Berührung die Wunde verschwinden würde. Oh, Conch, was habe ich getan?
Bevor ihre Finger den Drachen berührten, versetzte ihr plötzlich etwas einen Schlag in die Rippen - einen kräftigen Schlag. Saag-wan rang nach Luft, verlor ihren Lufthalm und schluckte einen Mund voll Meerwasser. Der Schlag stieß sie unter Conch weg und ins sonnenhelle Wasser. Würgend und spuckend rollte sich Saag-wan herum und schwamm in Richtung Wasseroberfläche. Meerwasser brannte ihr in der Lunge. Beinahe blind vor Schmerz, sah Saag-wan, dass ihr Angreifer wieder zu ihr herumschwang. Es war ein Felshai. Da sie ihre Aufmerksamkeit so sehr auf ihren verwundeten Freund konzentriert hatte, hatte sie den Raubfisch völlig übersehen. Sie hätte klug genug sein müssen, in ihrer Wachsamkeit nicht nachzulassen, solange die Haie Blut im Wasser rochen.
Sie schwamm mit kräftigen Fußstößen, um sich von dem Angreifer zu entfernen. Ihr Kopf hob sich im selben Augenblick über die Wasseroberfläche, als auch die riesige Haifischflosse aus den Wellen brach. Sie war höher als ihr ganzer Körper. Hustend und prustend hielt sie das kleine Messer hoch und griff nach der Betäubungswaffen an ihrem Gürtel. Sie kämpfte nicht zum ersten Mal - sie würde nicht dulden, dass ein Hai zwischen ihr und Conch stand.
Sie hob das Messer, doch sie brauchte es nicht einzusetzen. Ein großer Speer flog hell leuchtend durch das glitzernde Wasser und traf den Flossenansatz. Eine Blutfontäne spritzte an der ins Fleisch eingedrungenen Spitze hoch, und der Felshai sprang aus dem Wasser, gegen seinen Tod anzappelnd.
Saag-wan sah dem Schauspiel gebannt zu; der Anblick des höhlenartigen Mauls, mit unzähligen Zähnen bewehrt, drohte sie zu überwältigen. Sie fuchtelte wild mit den Armen, um sich aus der Reichweite der peitschenden Schwanzflosse zu entfernen. Selbst ein sterbender Hai konnte noch töten.
Stimmen wurden hinter ihr laut.
»Guter Wurf, Kast!«
»Was für’n kräftiger Arm!«
Saag-wan drehte sich blitzschnell um. Sie befand sich wieder an der leewärtigen Seite des Hauptboots und blickte hinauf in zwei bärtige, narbenübersäte Gesichter, die ihrerseits unverwandt sie anstarrten.
Bevor sie reagieren konnte, flog ein Netz über die Reling und senkte sich über Saag-wan herab. Sie stieß sich mit den Füßen vom Boot ab und versuchte zu entkommen, rutschte jedoch an den von Algen glitschigen Planken ab. Die Maschen des Netzes legten sich wie ein lebendiges Wesen um sie und umschlangen sie. Das Messer wurde ihr aus der Hand geschlagen.
Sie kämpfte, doch genau wie bei Conch führte das nur dazu, dass sie sich noch schlimmer verhedderte. Meerwasser schwappte ihr in den Mund und in die Nase. Sie konnte weder an die Oberfläche aufsteigen noch ihren Lufthalm erreichen. Sie japste und keuchte und schlug wild um sich, doch sie konnte die Dunkelheit nicht zurückdrängen. Wie das Meer selbst ertränkte die aufwallende Finsternis Saag-wan und riss sie mit sich.
Kast beachtete den Aufruhr an Deck hinter ihm nicht. Er stand am Bug der Skipperjan und sah zu, wie der Felshai an seiner Speerspitze verendete. Da er der König der Haie war, würden sein Leichnam und sein Blut andere Haie von dem verwundeten Seedrachen ablenken.
Kast sah unverwandt aufs Meer, sein Blick wanderte zu der Stelle, wo das Licht der Sonne auf den jadegrünen Schuppen glitzerte. Abgesehen von einem Fass mit Ersatzspeeren neben ihm, stand er allein an der Reling. Niemand wagte es, ihm ohne ausdrückliche Aufforderung zu nahe zu kommen. Seine mandelförmigen Augen warnten jeden, der sich erkühnte zu vergessen, mit wem er es zu tun hatte.
Geboren und aufgewachsen bei den wilden Stämmen südlich der Verdammten Untiefen, war Kast ein Angehöriger der De’rendi, einem Volk, das für seine Piraterie und karge Lebensweise bekannt war. Er trug eine Tätowierung am Hals, die einen Meerfalken darstellte, die Krallen zum Angriff entblößt.
Das war das Wappenzeichen des wildesten und räuberischsten aller De’rendi-Stämme, der Blutreiter. Er hatte die
Weitere Kostenlose Bücher