Alasea 03 - Das Buch der Rache
um die Gabe, wünschte sie sich mit aller Kraft. Vor ihr wurde Tante Filas Gesicht jedoch immer deutlicher; kleine Einzelheiten, die Elena schon vergessen hatte die Grübchen auf dem Kinn der Tante, die feinen Fältchen in den Augenwinkeln , wurden langsam sichtbar. Die Zeit wurde knapp.
Elena streckte den Arm vollständig aus. Ihre Hand verschwand mit einer kühlen Berührung.
»Beeil dich, Kind! Aus diesem Licht wird eine neue Magik in die Welt geboren werden. Das Licht der Sonne hat dir Feuer gebracht, das Mondlicht Eis. Das Licht des Geistes wird dir…«
Elena nahm den Arm herunter; die Geistwelt um sie herum war gewichen. Sie fiel zurück in die Welt des Blut fordernden Gebrülls und der Todesschreie der Sterbenden. Sie hob den Arm von der Decke und starrte ihre Hand an.
Ihre Augen wurden weit vor Entsetzen. Ihr eigener Schrei übertönte all die anderen: »Nein!«
Merik humpelte auf seiner Krücke durch den leeren Vorratsraum. Die anderen waren gegangen, um ihre Sachen und Pferde für die Reise vorzubereiten. Geschwächt durch seine Verletzungen obschon sie nun langsam abheilten , konnte er den anderen keine große Hilfe sein beim Zusammenpacken der Vorräte aus Mama Fredas Apotheke. Allein im Lagerraum, ging er hinüber zu den Käfigen, die die verschiedensten Kreaturen beherbergten, welche die alte Heilerin für ihre Künste brauchte.
Rasch öffnete er einen Käfig, in dem ein Trillerfalke saß. Das leuchtend grüne Gefieder des Vogels zeugte von seiner Herkunft aus dem Dschungel eines weit entfernten Landes. Merik beabsichtigte jedoch, das Tier noch viel, viel weiter weg zu schicken. Der Vogel breitete seine Flügel bedrohlich aus und zischte Merik an, als dieser in den Käfig griff. Aber Merik schickte einen Hauch elementarer Magik aus, die sich um die wilde Kreatur legte. Umhüllt von Magik, beruhigte sich der Falke schnell und stieg auf Meriks Handgelenk.
Mit dem Vogel in der Hand humpelte Merik zu dem kleinen offenen Fenster des Lagerraums. Er ließ den Falken auf den Holzrahmen steigen und strahlte noch einmal seine elementare Magik auf ihn aus. Die Elv’en waren die Meister der Lüfte und aller geflügelten Kreaturen. Kein Vogel konnte sich dem Ruf eines Elv’en Edlen entziehen. Der Trillerfalke legte den Kopf zurück und lauschte Meriks Anweisungen.
Mikela hatte Merik erzählt, was Elena und den anderen widerfahren war von der Reise durch den Sumpf, dem Kampf mit dem grausamen Zwerg, dem Untergang A’loatals. Der Herr der Dunklen Mächte hatte die versunkene Stadt fest in seiner Gewalt. Jeder Versuch, das Buch des Blutes zu erreichen, würde mit Sicherheit fehlschlagen. Wie konnten die anderen nur erwägen, Elena in eine solche Gefahr zu bringen?
Merik kannte seine Aufgabe. Er würde das Mädchen beschützen, auch wenn dies das Ende Alaseas bedeuten sollte. Was kümmerte es sein Volk, wenn dieses Land unterging? Sein Volk war schließlich vor langer Zeit von hier verbannt worden. Für ihn zählte nur der Auftrag, mit dem ihn seine Königin hierher geschickt hatte: Seine Aufgabe war es, die verlorenen Abkömmlinge des Königs zu seinem Volk zurückzuführen.
Und diesen Auftrag würde er erfüllen.
»Geh«, flüsterte er dem Falken zu. »Flieg nach Sturmhaven.
Such meine Königin. Sag ihr, die Zeit wird knapp. Sie muss ihre Gewitterwolken freilassen und die Kriegsschiffe aussenden.«
Er hob die Hand, worauf der Falke durchs Fenster entfleuchte. Mit einem lauten Schrei breitete der Vogel die Flügel aus und ließ sich von der Meeresbrise hinauf in die Lüfte tragen. Er drehte noch eine Runde über den Schieferdächern von Port Raul und verschwand anschließend in der Sonne.
Merik verfolgte den Flug des Vogels mit seinen himmelblauen Augen und hauchte: »Wir müssen Elena aufhalten.«
Mit steinschwerem Herzen folgte Tol’chuk den anderen durch die Straßen von Port Raul, während die Morgensonne weiter in den Himmel stieg.
Er hatte die ganze Nacht um seine Mutter getrauert. Wie eine hell brennende Kerze war sie in sein leeres Leben getreten und hatte es kurz erleuchtet, um dann gleich wieder ausgeblasen zu werden, noch bevor Tol’chuk die Wärme und das wahre Glück einer Familie erfahren durfte. Doch er hatte keine Zeit für Trauer und Gram. Er überwand die Leere in seiner Seele und beschritt weiter den Weg, den ihm die Alten seines Volkes gewiesen hatten. Der nächste Schritt, um seine Pflicht zu erfüllen, bestand darin, dieser Stadt des Abschaums zu entkommen. Er hatte genug von
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