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Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung

Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung

Titel: Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clemens
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herausgefallen waren, und sah den Aufräumungsarbeiten unten am Hafen und zwischen den halb versunkenen Türmen zu. Hier war er allein mit seinen Gedanken. Seit die Kriegsschiffe der Elv’en den Turm zerstört hatten, wagte sich niemand mehr auf das baufällige Gemäuer bis auf den Og’er. Er suchte hier Zuflucht.
    Vom Hafen drangen Stimmen herauf. Männerstimmen, die schroffe Befehle riefen oder gemeinsam sangen. Am Meeressaum war man dabei, mit Netzen und Tauen Masten und Rumpfteile aus den Bergen von Treibgut zu zerren, die sich in den Straßen und Gassen der versunkenen Teile der Stadt A’loatal angesammelt hatten.
    Diese Arbeiten nahmen kein Ende. Obwohl seit der blutigen Schlacht ein voller Mond vergangen war, spülte die Flut noch immer jeden Morgen neuen Unrat an Land, als wollte sich die Große Wasserwelt von der Qual und dem Grauen in ihren salzigen Tiefen befreien. Nicht nur Teile zerstörter Schiffe schaukelten auf den Wellen, sondern auch aufgedunsene Leichen von Menschen, Drachen und vielarmigen Meeresungeheuern. Tagtäglich zog der Gestank Scharen von Seevögeln an.
    Die Männer und Frauen, die sich da unten abmühten, hatten sich Tücher vor Mund und Nase gebunden und sahen aus wie vermummte Räuber. Aber Tol’chuk störte der Fäulnisgeruch nicht weiter. Er passte ins Bild. Den Gestank des Todes hatte er schon vor dem Inselkrieg nicht mehr aus der Nase bekommen.
    Tol’chuk wandte sich vom Meer ab und fischte den roten Herzstein aus dem Beutel an seinem Schenkel. Im Schatten leuchtete das Juwel in seinem eigenen Licht. Doch wo es einst wie eine rubinrote Sonne gestrahlt hatte, war jetzt nur noch ein mattes, fast kränkliches Flackern zu sehen. Tol’chuk drehte den Kristall in alle vier Himmelsrichtungen: nach Norden, Osten, Süden und Westen. Nichts. Der vertraute Zug an seinem Herzen blieb aus. Der Kristall leitete ihn nicht mehr.
    Tol’chuk hielt ihn ins Licht der Abendsonne. In seinen Tiefen lauerte ein schwarzer Fleck: der Vernichter, der Schatten, der Fluch, mit dem das Land sein Volk belegt hatte, um es für die Gräueltaten zu bestrafen, die Tol’chuks großer Vorfahr, der ›Eidbrecher‹, begangen hatte. Tol’chuk hatte von den Ältesten seines Stammes den Auftrag erhalten, das Verbrechen seines Ahnen zu sühnen. Als Führer hatten sie ihm den Stein geschenkt, in dem die Geister seines Volkes bewahrt waren. Doch inzwischen hatte der Vernichter sein Werk fast vollendet. Er hatte von den Seelen des Stammes gezehrt und war gewachsen. Als Tol’chuk seine Reise antrat, war der kleine Wurm hinter den tausend Kristallfacetten noch kaum zu sehen gewesen, doch jetzt war er wohl genährt und deutlich zu erkennen. Und er veränderte sich. Vergleichbar einer Raupe auf dem Weg zum Schmetterling, hatte sich der Vernichter zu einem Schattenwesen entwickelt, das zusammengerollt in seinem rubinroten Kokon lauerte. Aber was war das für ein Wesen? Welche Gestalt würde es annehmen?
    Tol’chuk ließ den großen Kristall sinken.
    Spielte das denn noch eine Rolle? Die Geister seiner Vorfahren waren fast aufgezehrt. Tol’chuk beugte sich über den dunklen Stein. Warum hatte ihn das Herz seines Stammes zu dieser Hexe geführt? War diese Tatsache an sich schon ein Hinweis? Sollte er ihr helfen, um selbst Hilfe zu finden? Er wusste es nicht. Aber er sah auch keinen anderen Weg.
    Tol’chuk öffnete den Beutel und schaute dabei wieder zu den Reinigungstrupps hinab. Möwen schossen am Himmel hin und her oder zankten sich kreischend um die Leckerbissen am Strand. Zwei Haie kämpften um ein Netz mit einer Leiche. Tol’chuk wandte sich ab. Alles Leben nährt sich vom Tod, dachte er niedergeschlagen.
    Der Herzstein wollte nicht so ohne weiteres in den Beutel zurück, und der Og’er zerrte gereizt an den Schnüren. Da flammte der Kristall plötzlich wie im Zorn über seine Ungeschicklichkeit hell auf. Tol’chuk erschrak. Der Stein entfiel seinen Krallenfingern und kullerte über den Boden. Neben einer umgestürzten Säule blieb er liegen. Aber er strahlte weiter so hell wie ein Stern.
    Tol’chuk kniff die Augen zusammen. Das Licht reizte ihn zu Tränen, doch zugleich erfüllte ihn tiefe Erleichterung. Das Herz war wieder zum Leben erwacht.
    Er rappelte sich auf, stützte sich auf seinen langen Arm und beschattete mit der anderen Hand seine Augen. Nun sah er, wie im Kern des grellroten Lichts ein Schatten entstand, der mit jedem Herzschlag größer wurde. Tol’chuk dröhnten die Ohren, er stand wie erstarrt.

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