Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Dunkle Schwaden wirbelten durch den Kristall.
Der Vernichter. Jetzt kam er, um ihn zu holen.
Dennoch rührte sich Tol’chuk nicht von der Stelle. Er nahm sogar die Schultern zurück und stand aufrecht. Wenn der Tod heute zu ihm kommen wollte, er war bereit. Jetzt hatten die schwarzen Wirbel den rubinroten Schein fast völlig verschlungen. Die Schatten verdichteten sich, bis nur noch eine rote Aura zu sehen war, so hell wie die Korona bei einer Sonnenfinsternis.
Die Schattenwolke zog sich zusammen, eine Gestalt entstand. Tol’chuk riss trotz der Helligkeit die Augen weit auf. Bald stand, aus Schatten geformt, das Bild eines Og’ers vor ihm. Vornüber gebeugt, mit krummem Rücken, stützte er sich auf einen Arm so dick wie ein Baumstamm. Ein Streifen aus stoppeligen Haaren zog sich über seinen nackten Rücken. Große Augen aus schwarz brodelndem Gewölk blickten Tol’chuk entgegen. Es war, als sähe er in einen schwarzen Spiegel und in gewisser Hinsicht stimmte das auch.
Er trat näher. Tränen trübten seinen Blick. »Vater?«
Die Schattengestalt bewegte sich immer noch nicht, nur um die Mundwinkel zuckte es belustigt. Die Augen wanderten über Tol’chuks aufrechte Gestalt. »Der wie ein Mensch geht.«
Tol’chuk sah an sich hinab, dann beugte er den Rücken und stützte sich auf die Knöchel seiner Krallenfaust.
»Nein«, sagte die Erscheinung in der Og’er Sprache, mit einer Stimme, die wie ein Flüstern und zugleich wie ein Ruf aus weiter Ferne klang. »Es ist schon gut. Die Triade hat dir den richtigen Namen gegeben.«
»Aber Vater …?«
Die Schattengestalt schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich muss mich beeilen.«
»Aber das Herz? Es leuchtet doch wieder!«
»Nicht für lange.« Der schwarze Og’er hob die Augen zu seinem Sohn. »Ich bin der letzte der im Stein gefangenen Geister. Nur unsere Blutsbande haben mich bisher vor dem Vernichter bewahrt. Doch wenn die Sonne untergeht, werde auch ich verschwunden sein.«
»Nein!«
Ein zorniges Grollen ertönte. »Steine fallen nach unten, und das Wasser fließt nicht bergauf. Daran kann auch ein Og’er nichts ändern. Und du bist ein Og’er, mein Sohn. Also finde dich ab mit meinem Schicksal, ich tue es auch.«
»Aber …?«
»Ich komme vor meinem Ende zu dir, um dir einen letzten Rat zu geben. Mit dem Nahen des Vernichters erkenne ich dein nächstes Ziel. Doch von nun an wirst du ohne die Hilfe der Geister auskommen müssen. Von nun an bist du auf dich allein gestellt.«
»Aber warum? Was hat es für einen Sinn, noch weiter zu kämpfen, wenn der Vernichter den Stein geleert hat?«
»Noch ist nicht alles verloren, mein Sohn. Es gibt einen Weg, den Vernichter zu zerstören und das Herz unseres Volkes wieder zum Leben zu erwecken.«
»Ich begreife nicht.«
Die Gestalt begann zu verschwimmen, der grellrote Schein verblasste. Sogar die Stimme wurde schwächer. »Du musst den Stein dorthin zurückbringen … wo er einst gebrochen wurde.«
»Und wo ist das?«
Wie ein Windhauch streifte die Antwort sein Ohr. Tol’chuk taumelte zurück. »Nein«, keuchte er. Doch er wusste genau, dass er sich nicht verhört hatte.
Das Bild löste sich zusehends in Schatten auf. »Tu, was ich dir sage … zum Andenken an deinen Vater.«
Tol’chuk ballte beide Fäuste. Die Erscheinung verlangte Unmögliches, aber er nickte. »Ich werde es versuchen, Vater.«
Die Schatten zogen sich in den Stein zurück. Ein letztes Flüstern drang zu Tol’chuk. »Ich erkenne deine Mutter in dir.« Der Kristall verdunkelte sich. »Ich gehe in Frieden, mein Sohn, denn nun weiß ich, dass wir beide in dir weiterleben.«
Dann lag der Stein erloschen auf dem kalten Granit.
Tol’chuk war wie erstarrt. Kein einziges Fünkchen leuchtete mehr aus dem Kristall. Endlich ging er auf das Herz seines Volkes zu, nahm es in seine Krallenhand, sank auf die Knie und wiegte es im Schoß.
In dieser Stellung verharrte er, bis die Sonne im Westen hinter dem Horizont verschwand. Nur hin und wieder rollte ihm eine Träne über die Wange. Als die Dunkelheit über den Turm hereinbrach, hob er den Stein an die Lippen und küsste ihn. »Leb wohl, Vater.« Joach eilte durch die verlassenen Korridore und betete im Stillen, die Flucht möge gelingen. Der Staub in diesem abgelegenen Teil der Burg hatte ihm die feinen Kleider beschmutzt, und er war so schnell gerannt, dass er laut keuchte. Nun blieb er kurz stehen und lauschte. Von den Verfolgern war nichts zu hören. Befriedigt
Weitere Kostenlose Bücher