Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Das Schiff war von schwarzen Wolken umringt, aus denen immer wieder Blitze zuckten. Auf allen Seiten grollte der Donner, und aus der Ferne glaubte er hunderte von Trompeten schmettern zu hören. Aber das alles verblasste neben dem Bild vor dem Bug der Sonnenjäger.
Ein gewaltiges Holztor ragte eine Viertelmeile hoch in den Himmel. Die Flügel waren geöffnet, und dahinter lag, welch ein Wunder, eine riesige Stadt in den Wolken. Die Nachmittagssonne schien hell auf Dächer und Türme herab.
Gleich hinter dem Tor öffnete sich eine geschützte Bucht mit hölzernen Stegen und Landungsbrücken, die aus den brodelnden Wolken ragten. Dort waren Schiffe in allen Formen und Größen vertäut: schnittige Kutter, dickbäuchige Kauffahrer und sogar kleinere, fantasievoll gestaltete Boote, die Schwäne oder Adler darstellten. Hinter dem Hafen erstreckten sich aus Holz gebaute Wohn und Geschäftshäuser über die Wolken, so weit das Auge reichte. Aus einigen Kaminen ringelten sich dünne Rauchfäden; aus manchen Fenstern schauten kleine Gesichter. Und alle Gebäude waren leuchtend bunt wie das Gefieder eines Pfaus. Statt durch steinerne Straßen oder schlammige Wege waren sie durch komplizierte Seilbrücken ein Labyrinth aus Tauen und Planken miteinander verbunden. An den Wolkenhängen reckten sich größere Häuser und spitze Türme dem sonnigen Himmel entgegen. Es war eine gewaltige Stadt.
Doch alles wurde beherrscht von der gewaltigen Burg im Zentrum. Ihre Mauern waren aus reinem Eisen und funkelten nur so im Schein der Blitze. Dahinter reckten sich etwa zwanzig Türme so dicht nebeneinander wie ein Büschel Schilfhalme Schwindel erregend in die Höhe.
Tol’chuk trat an Er’rils Seite und richtete sich auf, um das wundersame Schauspiel besser betrachten zu können. Inzwischen kamen die Elv’en Matrosen schon aus allen Luken und Türen geströmt. Ohne Er’ril und Tol’chuk zu beachten, kletterten sie in die Takelage und begannen, die Segel zu reffen.
Er’ril wandte sich ab. Er konnte sich denken, wie diese Himmelsstadt hieß: Sturmhaven. Merik hatte früher öfter von der fliegenden Elv’en Zitadelle erzählt. Doch das erklärte nicht, was die Stadt hier zu suchen hatte und warum sie jetzt durch ihre Tore schwebten. Er’rils Züge wurden hart wie Granit. Er wusste, wer ihm diese Fragen beantworten konnte.
»Komm mit«, sagte er und stieg die Leiter zum Achterdeck empor. Mama Freda hatte Königin Tratal in der Nähe der Heckreling gesehen. Und die alte Frau hatte sich nicht getäuscht. Als Er’ril oben ankam, entdeckte er die Elv’en Königin in einer knisternden Aura aus bläulicher Energie. Sie hatte die Arme hoch erhoben, ihr Gesicht war himmelwärts gerichtet, und das silberweiße Haar umstand es wie eine zornige Wolke.
»Tratal!« bellte Er’ril. »Was für ein Spiel treibst du?«
Nur langsam wandte die Königin den Blick vom Himmel ab. Blitze flammten aus ihren Augen. »Ich bringe die Hexe auf den Thron, auf den sie gehört. Sie soll mit ihrem Blut eine Brücke schlagen zwischen der Vergangenheit der Elv’en und ihrer Zukunft. Es ist an der Zeit, dass Elena aufhört, sich im Schlamm zu wälzen, und ihr wahres Erbe antritt.«
Er’ril hielt sein Schwert in der Hand. »Ich lasse nicht zu, dass du sie entführst.«
Königin Tratal senkte die Arme. Ihre Fersen berührten wieder die Planken. »Und wie willst du mich daran hindern?« Sie schwenkte den Arm. Die Sonnenjäger glitt, flankiert von den Geleitschiffen, durch das Tor. »Unsere Heimat fliegt meilenweit über eurer Welt. Jenseits unserer Mauern lauert der Tod. Eine Flucht verbietet sich von selbst.«
Er’ril überlegte. Tatsächlich gab es gegen den Willen der Elv’en keine Möglichkeit, zur Erde zurückzugelangen. Sie waren ganz und gar auf die Unterstützung ihrer Gastgeber angewiesen. Doch Er’ril hatte im Laufe der Jahrhunderte gelernt, dass so mancher gern bereit war zu kooperieren, wenn man ihn mit einer Waffe bedrohte. So hob er sein Schwert. Wenn er die Königin als Geisel nähme …
Tratal schnippte mit den Fingern. Aus den Energieströmen, die das Schiff umwogten, löste sich ein kleiner Blitz und fuhr in Er’rils Schwert. Das Metall wurde glühend heiß.
Er’ril keuchte auf und schüttelte seine schmerzenden Finger. Das Schwert fiel klirrend zu Boden. Tol’chuk grollte drohend, aber Er’ril hielt ihn zurück.
Königin Tratal blieb kalt wie Eis. »Du kannst dein Schwert wieder aufheben, Präriemann.« Sie wandte ihm den Rücken
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