Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Drachen aller Größen steigen, Geschöpfe der Luft in wirklichkeitsnahen und fantastischen Formen. Scharfäugige Adler, schwarz geflügelte Krähen, Reiher, Seeschwalben, Fledermäuse, Schmetterlinge und sogar Wolken flatterten in farbenprächtiger Vielfalt so fröhlich durch die Luft wie der Gesang und das Lachen der Kinder.
Ein Lächeln huschte über Elenas Lippen. Ein besonders kühner kleiner Junge kam auf sie zugerannt und schlüpfte geschickt an Er’ril vorbei, bevor der ihn zurückhalten konnte. Der Kleine er konnte höchstens fünf Winter alt sein rannte neben Elena her und sah sie mit großen blauen Augen an. Sein weißblonder Schopf war so ungebärdig wie ein Wirbelsturm. »Du siehst gar nicht aus wie ein König«, sagte er ein wenig ratlos. »Papa sagt, du bist ein König. Aber Könige sind doch eigentlich Männer.«
»Ich bin auch kein König, mein Kleiner«, lächelte sie belustigt. »Nur eine Enkelin eures alten Königs.«
Er dachte eine Weile mit zusammengekniffenen Augen und geschürzten Lippen über ihre Antwort nach. »Siehst aber immer noch nicht aus wie ein König«, erklärte er schließlich, reichte ihr allerdings trotzdem die Hand.
Sie wies ihn nicht zurück. Wie hätte sie das über sich gebracht?
Er beugte sich näher zu ihr, und sein Blick huschte misstrauisch zu Er’ril hinüber. »Papa sagt, wenn ich sechs werde, kriege ich zu meiner Geburtstagsfeier ein Schwert. Dann beschütze ich dich, und du brauchst den da nicht mehr.«
»Das wäre eine Ehre für mich, mein kleiner Ritter.«
Er nickte, voller Genugtuung über seine künftige Aufgabe. Nach einer Weile winkte er sie zu sich und drückte ihr rasch einen Kuss auf die Wange.
Damit hatte er sein Ziel erreicht. Er rannte davon wie ein Wiesel und rief aus Leibeskräften: »Ich habe den König geküsst! Ich habe den König geküsst!«
Lächelnd beobachtete Elena, wie sich andere Kinder um ihn scharten, um sich die aufregende Geschichte erzählen zu lassen. Kinder waren offenbar überall gleich. Der kleine Zwischenfall hatte sie beträchtlich aufgeheitert. Aber ein Blick nach unten genügte, um ihr wieder in Erinnerung zu rufen, dass sie eine Gefangene war.
Die Brücke, über die sie ging, war aus Eschenbrettern zusammengesetzt. Aus jeder Eisenschraube strahlte ihr die Magik der Elv’en entgegen eine Magik, die diesen Steg vor dem Sturz ins Bodenlose bewahrte. Auch die Luft roch durchdringend nach Magik oder war es nur der Geruch der Blitze? Zwischen den Ritzen sah sie die Wolken kochen wie einen wütenden Sturzbach. Blitze zuckten durch ihre Tiefen, und unablässig grollte der Donner.
Wennar trat an ihre Seite. »Unter uns liegt Gul’gotha.«
»Woher weißt du das?« fragte sie.
Wennar zeigte nach Norden. Elena drehte sich um. Zwischen einer schiefergedeckten Schusterwerkstatt und einer zweistöckigen Wachszieherei konnte man ein Stück der hoch aufragenden Stadtmauern sehen. Dahinter wirbelten und brodelten die Sturmwolken. Aus ihrer Mitte ragte ein einzelner Gipfel auf wie eine schroffe Felsinsel mit steilen Riffen aus schäumender See.
»Der Amboss«, sagte Wennar. »Der heilige Berg unseres Volkes. Unsere Sagen erzählen, auf diesem Gipfel hätten die Götter einst mit ihren Hämmern die ersten Angehörigen der Zwergenrasse geschmiedet.«
Elena nickte. Der Berg war oben abgeflacht und erinnerte tatsächlich an den Amboss einer riesigen Schmiede. Der Sturm fegte an seinen Hängen empor, und die Wolken suchten ihn zu überfluten. »Wir sind in Bewegung«, murmelte sie. Sie spürte zwar nichts davon, doch sie sah, wie der Sturm an dem Berg vorüberzog. Sturmhaven war auf großer Fahrt und passierte soeben Gul’gotha.
Er’ril trat näher. »Wie weit sind wir inzwischen von der Küste entfernt?«
»Ein halbes Dutzend Meilen, schätze ich.«
»Und wie weit von eurem Heimattal?«
»Zehn Tagesmärsche. Etwa fünfzig Meilen.«
Sie gingen weiter hinter der Sänfte der Königin her, und bald verdeckte ein blaues Haus mit silbernen Ornamenten die Aussicht auf Gul’gotha. Schon sechs Meilen von der Küste? Der Sturm bewegte sich schnell.
»Dann sind wir bis morgen früh über euren Tälern«, brummte Er’ril.
»Und später weit darüber hinaus«, fügte Wennar leise hinzu.
Er’ril sah Elena von der Seite an. Seine Züge waren hart. Sie verstand den stummen Blick. Sie mussten noch in dieser Nacht eine Möglichkeit zur Flucht finden, sonst waren sie für immer verloren.
Schwer legte sich die Sorge auf ihr Herz. Sie
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