Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Das Tierchen verspeiste den gestohlenen Happen mit sichtlichem Genuss. Er’ril wollte nach ihm schlagen, aber Tikal hüpfte davon, huschte um den am Boden kauernden Tol’chuk herum und eilte zu seiner Herrin.
»Tikal!« schalt Mama Freda empört. Die alte Frau war auf ihrem Stuhl eingenickt, nun stemmte sie sich hoch und nahm den Tamrink mit dem feuerroten Fell auf den Arm. Dann wandte sie Er’ril ihr augenloses Gesicht zu. »Es tut mir Leid. Er ist im Moment völlig außer Rand und Band.«
Ein krachender Donnerschlag ließ das Schiff bis ins Mark erzittern.
»Das überrascht mich nicht«, sagte Elena mit besorgtem Blick. »Über der Küste braut sich ein mächtiges Unwetter zusammen.«
Er’ril war bereits wieder bei der Karte. »Königin Tratal wird uns schon sicher hindurchsteuern. Sie sagte, der Sturm sei weiter kein Problem.«
Tikal begann leise zu winseln. Mama Freda räusperte sich. »Ich weiß nicht.« Sie legte den Kopf schief. Tikal tat es ihr nach. »Irgendwie hört sich dieses Gewitter merkwürdig an.«
»Wie meinst du das?« brummte Er’ril, schlagartig misstrauisch geworden.
Die alte Heilerin schüttelte nur den Kopf.
Tol’chuk regte sich und schlug langsam die Augen auf. »Ich sehe besser einmal nach.«
»Nicht nötig«, entgegnete Mama Freda. »Tikal ist schneller.« Sie beugte sich über das Tierchen, und schon sprang Tikal von ihrem Schoß und rannte auf allen vieren wie ein haariger Blitz aus der Tür.
Er’ril richtete sich auf. Die anderen schwiegen.
Mama Freda zog sich das schwarze Tuch fester um die Schultern. »Tikal hat jetzt das Mitteldeck erreicht.« Sie presste die Lippen zusammen und konzentrierte sich. »Der Wind ist stark. Das Schiff ist auf allen Seiten von bedrohlich schwarzen Wolken umgeben. Am Himmel findet ein regelrechtes Feuerwerk statt.«
Wie zur Bestätigung erbebte das Schiff unter einer neuen Donnersalve.
»Aber … aber das Licht stimmt nicht. Es ist zu hell. Tikal klettert in die Takelage, um einen besseren Überblick zu bekommen. Ich sehe Königin Tratal. Sie steht am Heck und sprüht nur so vor Kraft und Energie. Sie reckt sich dem Himmel entgegen, ihre Zehen berühren kaum noch die Planken.«
Mama Freda richtete sich jäh auf.
»Was ist?« fragte Elena.
»Ich sehe andere Schiffe … kleinere Boote, sie nehmen uns in die Mitte.«
Er’ril trat zu ihr, die Hand am Griff seines Silberschwerts. »Ein Überfall?«
»Ich glaube nicht. Mit Tikals scharfen Augen kann ich in der Takelage der anderen Schiffe Elv’en erkennen.«
»Elv’en?« Er’rils Miene verfinsterte sich. »Woher kommen die denn?«
Mama Freda hob die Hand und sagte stirnrunzelnd: »Das Licht … Süße Mutter, da vorn scheint die Sonne!« Sie sprang auf und stolperte blind durch den Raum, den Blick in weite Fernen gerichtet. Elena eilte herbei und stützte die alte Heilerin. »Eine Stadt! Ich sehe eine Stadt im Sturm!«
Er’ril zog sein Schwert aus der Scheide und ging auf die Tür zu.
»Man hat uns betrogen!« Elena wollte ihm folgen, aber er wehrte ab. »Du bleibst hier bei Mama Freda. Tol’chuk und ich sehen nach.« Er wandte sich an die augenlose Heilerin. »Mama Freda, lass dein Tierchen auch weiterhin an Deck. Ihr wartet hier, aber haltet euch bereit, falls es Ärger gibt.«
Elena zog sich einen Handschuh aus und griff nach ihrem Hexendolch. Die kleine Klinge blitzte im Schein der Lampe.
Er’ril hielt ihre Hand fest. »Sei vorsichtig mit deiner Magik. Wenn sie dir das Schiff unter den Füßen wegbrennt, kannst auch du nicht fliegen.«
Sie befreite ihre Hand und ritzte sich mit der Klinge die Fingerspitzen. »Keine Angst, Er’ril.« Blut quoll ihr aus den Fingern und verwandelte sich in feurige Fäden, die sich verschlangen, bis eine brennende Rose auf ihrer Handfläche lag. Sie sah ihn fest an, die Magik strahlte ihr aus den Augen. »Das Schiff wird nicht verbrennen.«
Er’ril zog die Augenbrauen hoch. Er war erstaunt, wie mühelos sie ihre Magik beherrschte. Dann nickte er und drehte sich zu Tol’chuk um, der an der Tür wartete.
Hinter ihm rief Mama Freda aufgeregt: »Wir fliegen auf die Stadttore zu! Macht schnell!«
Er’ril sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Tol’chuk folgte ihm. Er’ril riss die Tür zum Mitteldeck auf und stürmte mit erhobenem Schwert hinaus. Dann traf es ihn wie ein Schock, er stolperte und wäre fast gestürzt.
Nur mit Mühe fing er sich wieder und starrte mit offenem Mund auf das Schauspiel, das sich ihm bot.
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