Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
die man sich über dich erzählt, der Wahrheit entsprechen, warst du einst ein Heiler.« Der Prinz deutete mit dem Arm auf den Friedhof aus lebenden Steinen. »Siehst du, was du in deiner blinden Wut angerichtet hast? Du hast das Leben aufs Grässlichste entstellt. Inwiefern sind deine Handlungen weniger verwerflich als die Verbrechen des Schwarzen Herzens?«
»Ich wusste es nicht.«
Die Ausrede ließ Tyrus nicht gelten. »Es gibt kein tödlicheres Gift als die Unwissenheit. Dir wurde Macht verliehen, aber damit wurde dir auch Verantwortung übertragen. Du hattest kein Recht, die Welt für das Leid büßen zu lassen, das dir zugefügt wurde. Macht und Verantwortung sind nicht voneinander zu trennen.«
Der Magus krümmte sich unter der Last dieser Vorwürfe. »Ich habe um diese Macht nicht gebeten.« Er richtete sich auf und streckte die Steinhände aus. »Ich kann nichts fühlen. Nicht den Wind im Gesicht und nicht den Regen. Nicht die Hand, die mir über die Wange streicht, und nicht die weiche Haut eines Kindes. Alles, was ich berühre, wird zu Stein.«
Aus den Augen des Magus sprach grenzenloser Schmerz und ein Wahnsinn, der unmittelbar vor dem Ausbruch stand.
»Befreie mich …«, flehte er.
Tyrus sah ihn lange an, und allmählich begriff er: Nicht der Groll gegen den Herrn der Dunklen Mächte hatte den Zorn dieses Wesens geschürt, sondern seine Einsamkeit. Der Magus hatte sein ganzes Leben in den nördlichen Wäldern verbracht und als Einsiedler im Inneren eines Berges gelebt. Doch bei aller Abgeschiedenheit war er nie ganz allein gewesen; er hatte unzählige und zum Teil sehr enge Kontakte mit der Welt gepflegt.
Das hatte sich erst mit der Verwandlung grundlegend geändert.
Der Magus war ebenso ein Gefangener des Steins wie alle anderen hier. Er war abgeschnitten von der Welt und hatte jede Verbindung zu ihr verloren. Schlags Worte kamen Tyrus in den Sinn: Und eines sollt ihr niemals vergessen: Auch das Herz des Stein Magus ist zu Stein geworden.
Tyrus mochte nicht fähig sein zu vergeben, aber er konnte Mitleid empfinden. Er sah die Statue mit den flehentlich ausgestreckten Armen fest an. »Wir werden einen Weg suchen, um sie alle zu befreien«, versprach er und deutete mit seinem Granitarm in die Runde. »Die Zwerge, meine Männer und die Bewohner der Stadt.«
»Das ist nicht möglich«, seufzte der Magus und ließ die Arme sinken.
Tyrus wandte sich wieder dem Zwergenheer zu. Im Osten dämmerte langsam der Tag herauf. Nach Norden hin waren schon die ersten Berge zu erkennen. Die Hänge waren mit kahlen Bäumen bestanden, die an Totengerippe erinnerten. Dort begann der Steinwald, in dem die traurige Gestalt an seiner Seite einst zu Hause gewesen war.
»Erzähle mir, wie es war, als Schwarzhall ausbrach«, bat er.
Der Magus schlug die Hände vor das Gesicht. »Es war allzu schrecklich. Ich möchte nicht an die Erinnerungen rühren.«
»Du musst es tun«, sagte Tyrus streng. Er stellte sich vor den Mann hin und zog ihm eine Hand von den Augen. »Wenn es eine Hoffnung geben soll, deine Magik umzukehren, muss ich wissen, wie du zu deiner Fähigkeit gekommen bist.«
Der Magus schüttelte den Kopf. »Die Zeiten waren zu finster, ich ertrage es nicht, daran zu denken.«
Tyrus zog ihm auch den zweiten Arm herunter. »Sieh dir das an!« schrie er und deutete auf das versteinerte Heer. »Du hast tausende zu Gefangenen gemacht, genau wie du sind sie eingeschlossen im Stein. Hörst du nicht, wie sie nach Erlösung schreien? Spürst du nicht, wie ihre Augen dich anflehen?«
»Nein … nein …« Der Magus fiel auf die Knie und wiegte sich hin und her. »Ich wusste es doch nicht.«
»Aber jetzt weißt du es! Und du schuldest ihnen mehr als nur ein Feuer bei Nacht und ein paar rührselige Worte des Bedauerns. Wenn der Preis darin besteht, dich deiner Vergangenheit zu stellen, dann musst du ihn entrichten.«
Der Magus schaukelte weiter hin und her. Seine schweren Knie wühlten den Boden auf. Tyrus fürchtete schon, er wäre zu weit gegangen und hätte ihn in den Wahnsinn zurückgestoßen.
Da tropften schwerfällig die ersten Worte von den steinernen Lippen. »Ich sammelte Kräuter auf einer Waldlichtung, Anis und Falkenhauch.« Der Magus hielt sich die Hand an die Nase. »Ich rieche sie noch heute an meinen Fingern.«
Tyrus trat einen Schritt näher, wagte aber nicht, den Knienden zu berühren, um ihn nicht aus seinen Erinnerungen zu reißen.
»Ein gewaltiger Schlag zerriss die Stille, so heftig und
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