Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
durchdringend wie tausend Gewitter auf einmal. Die Erde bebte, sie wogte so heftig auf und ab, als hätte sich das Land in einen stürmischen Ozean verwandelt. Ich wurde zu Boden geschleudert, krallte die Finger in das Erdreich und betete zur Mutter über und zum Land unter mir. Als die Stöße schwächer wurden und schließlich ganz aufhörten, wähnte ich meine Gebete schon erhört. Ich erhob mich und flüchtete zurück zu dem Berg, in dem ich mein Heim hatte. Als ich dort ankam, waren alle Fenster zerbrochen, und in der mächtigen Eichentür klaffte ein großer Riss. Ich ging hinein, um nachzusehen, was von meinen Habseligkeiten noch heil war … und da …«
Das Schaukeln des Magus wurde heftiger; der Aufruhr in seinem Inneren brach sich Bahn, ein lautes Wehklagen löste sich aus seiner Kehle.
»Es ist vorbei«, murmelte Tyrus. »Hier bist du sicher.«
Der Zuspruch stieß auf taube Ohren. Die Schreie hörten nicht auf, doch irgendwann konnte Tyrus dazwischen Worte unterscheiden. »Ein Wind … ein heißer, brennender, ätzender Wind kam heulend vom Meer und riss alle Blätter von den Ästen. Junge Bäume wurden entwurzelt. Ältere Bäume brachen ab und flogen durch die Luft. Ich versteckte mich im Rübenkeller, doch auch dort konnte ich dem Feuerwind nicht entgehen. Er raubte mir den Atem.« Der Magus griff sich hustend und keuchend an die Kehle.
»Beruhige dich«, beschwor ihn Tyrus. »Der Wind ist vorbei, er ist Vergangenheit.«
Der Magus schüttelte den Kopf. »Er ist niemals vorbei. Sein Heulen und die Schreie der Verdammten gellen mir noch immer in den Ohren.« Seine Stimme wurde schriller, er redete wie im Fieber.
Tyrus wollte ihn gerade festhalten, da hörte der Magus von selbst auf zu schaukeln. Seine Augen waren weit aufgerissen, aber Tyrus wusste, dass er die Welt ringsum nicht wahrnahm.
»Der Tag wurde zur Nacht, das Geheul des Windes verstummte. Ich floh aus meinem Heim, doch draußen erkannte ich die Welt nicht mehr. Land und Himmel waren unter einer Qualmwolke verschwunden, die durchdrungen war von schädlichen Energien. Es regnete Asche. Und weit im Osten glühte der Himmel wie ein zornrotes Antlitz der Inbegriff all dessen, was böse war in der Welt. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und verkroch mich wieder in meinen Berg. Doch es gab kein Entrinnen.«
Das Schaukeln fing langsam wieder an. »Die Luft wurde immer giftiger. Neue Stöße erschütterten das Land. Grässliche Schreie hallten zu mir hinab. Ich verhüllte mein Haupt, aber sie fanden mich trotzdem.« Bei den letzten Worten veränderte sich sein Tonfall; jetzt hörte er sich fast glücklich an.
»Wer hat dich gefunden?«
»Meine Kleinen … die Fai ne.«
Tyrus erinnerte sich an Schlags Geschichte von den kleinen Schnitzereien, die der Heiler zum Leben erweckt hatte. War das die Wahrheit? Oder redete er irre?
»Ich hatte geglaubt, sie wären zerstört«, fuhr der Magus fort. »Aber sie kamen in meinen Keller und sahen mich in einer Ecke kauern. Ich ging ihnen entgegen, doch sie ängstigten sich vor mir und ergriffen alle die Flucht … bis auf den Ersten, den ich einst geschaffen hatte. Ich hatte ihn Raal genannt, das heißt bei den Nordländern so viel wie König.« Seine Stimme klang zutiefst verbittert. »Er hat mich gezwungen, mich selbst anzusehen.«
»Dich selbst anzusehen?«
»Er gab keine Ruhe, bis ich mich umdrehte und die Gestalt entdeckte, die zu meinen Füßen in der Asche lag.«
Tyrus runzelte verwirrt die Stirn.
»Raal wischte die Asche fort und legte die Steinfigur auf dem Boden des Rübenkellers frei. Dann musste ich sie betrachten.« Ohne in seiner Erzählung innezuhalten, hob der Magus die Hände und betastete vorsichtig sein Kinn, seine Wangenknochen und seine Nase. »Ich hätte mein eigenes Gesicht fast nicht erkannt.«
Tyrus machte große Augen.
»Aber ich kam nicht daran vorbei: Was da auf dem Boden des Rübenkellers lag, war mein eigener Leichnam. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich tot war. Mein Geist hatte wohl im allgemeinen Durcheinander den Weg zur Mutter über uns nicht gefunden. Raal indes, er sei verflucht, zwang mich, meinem eigenen Tod ins Auge zu sehen.«
»Was geschah weiter?«
»Raal rief die anderen Fai ne zu sich. Sie umzingelten den steinernen Leichnam und meinen Geist und gaben mir zurück, was ich ihnen einst geschenkt hatte.« Wieder heulte er vor Schmerz. »Ich hatte sie nicht darum gebeten.«
»Was gaben sie dir?«
»Leben«, schrie der Stein Magus. »Das Leben, das
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