Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
ihn am Handgelenk. »Onkel Kast, ich soll dir noch etwas von Papa bestellen.«
Er bekam eine Gänsehaut. »Von deinem Papa … Hast du noch einmal von ihm geträumt?«
»Nein, es war im selben Traum.« Scheschon gähnte, als wollte sie nie wieder damit aufhören.
Kast musste sich beherrschen, um sie nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln. »Was hat er gesagt?« fragte er mit heiserer Stimme.
Scheschon rollte sich zusammen. »Papa hat gesagt, du musst den Drachen töten.«
»Ich soll Ragnar’k töten?« Es war weniger eine Frage als ein Ausruf des Schreckens.
Scheschon musste schon wieder gähnen, aber sie antwortete dennoch. »Weil nämlich der Drache sonst die Welt auffrisst.«
18
Auch die Sommersonne konnte die winterlich kalten Wälder nicht erwärmen. Die Erde war so steinhart wie die Bäume, und Tyrus wirbelte bei jedem Schritt graue Aschewolken auf. Er knirschte vor Ungeduld mit den Zähnen. Der Magus stapfte voraus, zog eine schmutzige Aschefahne hinter sich her und kam doch nicht schneller voran als ein Mensch, der auf allen vieren kroch.
»Wie weit noch?« fragte Tyrus.
Der Magus deutete nach vorn. »Etwa eine Meile.«
»Und du bist sicher, dass Raal auch dort zu finden ist?«
»Bei Raal kann man nie sicher sein. Er ist längst genauso verwildert wie seine Geschöpfe.«
Tyrus betrachtete den Wald zu beiden Seiten. Da und dort lugte neues Grün durch die Asche: niedrige Krüppelbüsche, die mehr Dornen als Blätter hatten, harte Gräser und ein paar knorrige Schösslinge. In ihrem Gefolge hatten sich kleine Tiere angesiedelt: Käfer, Schnecken, Schlangen, Wühlmäuse und magere Kaninchen. Einmal entdeckte er sogar ein Reh.
Die Fai ne, die kleinen Bewohner des toten Waldes, glänzten durch Abwesenheit. Tyrus hatte den ganzen vergangenen Tag lang und den Vormittag über nach Spuren gesucht, nach kleinen Fußabdrücken in der Asche, fernen Stimmen oder Bewegungen im Unterholz. Doch er und der Magus schienen als Einzige unterwegs zu sein.
Nur in der Nacht war immer wieder etwas durch das Dunkel gehuscht, aber das hätten auch ganz gewöhnliche Tiere sein können. Tyrus ahnte allerdings, dass von allem, was bei Nacht diese Wälder durchstreifte, kaum etwas die Bezeichnung ›gewöhnlich‹ verdiente.
Nun schien der Wald ohne Leben zu sein. Es war totenstill kein Vogel zwitscherte, nicht einmal Insekten hörte man summen. Nur ihre eigenen knirschenden Schritte schallten weithin nach allen Seiten.
Tyrus war froh, Gesellschaft zu haben, auch wenn es nur der schweigsame Magus war. Im Steinwald war allein nicht gut wandern. Hier drohte der Wahnsinn. Die leeren Hügel und Täler ließen die Seele verdorren und machten die Einsamkeit noch schmerzlicher spürbar.
Endlich brach der Magus das steinerne Schweigen. »Wir sind nicht mehr weit von meinem alten Heim.« Er drehte den Kopf wie eine Pflanze auf der Suche nach Sonnenlicht. »Ich möchte es mir ansehen, bevor wir tiefer in den Wald eindringen.«
»Ist das ratsam?« fragte Tyrus. Er fürchtete, sein Begleiter könnte beim Anblick seiner früheren Wohnstätte in seinen traurigen Erinnerungen versinken. »Vielleicht sollten wir lieber gleich zu Raal gehen.«
»Nein«, brummte der Magus und schwenkte nach Westen ab. »Ich möchte mein Haus wieder sehen.«
Tyrus blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Der Magus führte ihn einen langen Hang hinauf und durch ein Waldstück, wo die Bäume dichter beieinander standen. Unterwegs bemerkte Tyrus seltsame Unregelmäßigkeiten an den Baumstämmen. Zuerst glaubte er, sie wären natürlich entstanden, doch dann wurden es immer mehr, und er erkannte, dass jemand mit Messer oder Meißel Löcher und Ecken in das Holz geschnitten hatte.
Vor einem der Löcher blieb er stehen und sah es sich genauer an. Es war etwa zwei Handspannen hoch und eine Handspanne breit und hatte unregelmäßige Kanten.
Der Magus bemerkte sein Interesse. »Aus diesem Rohstoff entstanden die Fai ne«, erklärte er, ohne stehen zu bleiben. »Ich nahm ein Stück Holz von einem Baum und saß so lange davor, bis es zu mir sprach.«
Tyrus ging weiter, bis er ihn wieder eingeholt hatte. »Bis es zu dir sprach?«
»Irgendwann gab jedes Stück, ob Mann oder Weib, Kind oder Tier, seine Form preis.« Er zuckte die Achseln. »Dann schnitt ich das Holz weg und legte frei, was sich darunter befand.«
»Und schließlich hast du es zum Leben erweckt«, ergänzte Tyrus.
Der Magus senkte die Stimme. »Meine Mutter …«, flüsterte
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