Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
ihr Körper auf. Der Schmerz war unerträglich.
»Was hat sie denn?« schrie Magnam.
»Sie stirbt!« sagte Jerrick. »Ihr Herz!«
Um Mama Freda wurde es dunkel, eine Finsternis, tiefer als ihre Blindheit, senkte sich über sie. Einen einzigen Atemzug rang sie ihren todesschwachen Lungen noch ab, um eine letzte Warnung an ihre Freunde, ihren Liebsten hervorzukeuchen.
»Hütet euch … vor Vira’ni!«
Dann linderte die Finsternis ihren Schmerz wie eine kühlende Salbe. Sie spürte noch die Lippen ihres Geliebten in einem letzten Kuss auf ihrem Mund, bevor sie seinen Armen entschwebte. Irgendwo im Dunkel piepste verängstigt und verwirrt ein winziges Stimmchen. Mama, Mama …
Still, mein Kleiner, ich komme.
Wie betäubt kniete Tol chuk vor der schwarzen Gestalt, die der Geistpforte entströmte. »Elena?« wiederholte er.
Dunkle Augen richteten sich auf ihn, schwarz glänzend wie polierter Obsidian. Immer noch umwogte das Silberhaar, von unsichtbaren Strömungen bewegt, das Gesicht. In den langen, gelockten Strähnen, die aus dem Geiststein quollen und sich über die schwarze Haut legten, knisterte und funkelte reine Energie. Je weiter sich die Erscheinung vom Herzsteinbogen entfernte, desto schärfer wurden ihre Züge, als tauche sie aus den Tiefen eines dunklen Meeres auf.
Nun sah Tol chuk, dass er sich geirrt hatte. Die Ähnlichkeit war groß, aber vor ihm stand nicht Elena. Diese Gestalt war viel älter. Das Gesicht war faltenlos, doch auf Augen und Mund lastete das Gewicht der Ewigkeit, und das Silber in ihrem Haar war nicht nur äußeres Zeichen ihrer Magik. Diese Frau hatte viele Jahrhunderte erlebt.
»W wer bist du?« stieß er hervor.
Die Triade beantwortete seine Frage mit ehrfürchtiger Bewunderung: »Die Herrin vom Stein. Seine Hüterin und Bewahrerin.«
Die Erscheinung hob den schwarzen Arm und strich sich eine Wolke von Silbersträhnen aus der Stirn. Die schwarzen Lippen öffneten sich. »Nein«, sagte sie. »Nicht mehr.« Die Worte klangen schwach und standen nicht im Einklang mit den Lippenbewegungen. »Ich kann die kommende Finsternis nicht aufhalten. Meine Zeit ist vorbei.« Die funkelnden Augen richteten sich auf Tol chuk. »Neue Hüter werden gebraucht.«
Tol chuk wich zurück, und die Triade war so verwirrt, dass ihre Umrisse verschwammen. »Aber die Herrin vom Stein war doch von allem Anbeginn die Hüterin der Pforte.«
»Nein«, wiederholte die Erscheinung kopfschüttelnd. »Nicht von allem Anbeginn … aber schon sehr lange … nur alte Sagen wissen noch von der Zeit zu berichten, in der mein Geist sich mit dem Stein vereinte.«
»Das verstehen wir nicht«, murmelte die Triade. Die Nebelgestalten zerflossen weiter.
»Ich wurde einst anders genannt.« Die Stimme wurde noch schwächer. »Für eure Ururahnen war ich nicht die Herrin vom Stein; der Name, den sie mir gaben, war eigentlich ein Fluch: Tu’la ne la Ra Kayn.«
Tol chuk runzelte die Stirn, denn die letzten Worte entstammten der alten Og’er Sprache. Die Ältesten hingegen mussten sie wohl verstanden haben, denn sie brachen in schrilles Wehklagen aus. »Das kann nicht sein!« riefen sie und wichen so entsetzt von der Pforte zurück, dass sie sich aufzulösen drohten.
»Was habt ihr denn?« fragte Tol chuk und erhob sich.
Ein Schatten schwebte über ihn hinweg und rief: »Tu’la ne la Ra Kayn!«
»Die Verdammte …«, wimmerte ein zweiter.
»Die Verfluchte!« heulte der dritte.
Die Gruppe hatte sich in ihrer Panik getrennt, nun sprach jeder von den dreien mit seiner eigenen Stimme.
Tol chuk trat einen Schritt zurück. »Wer?«
Der erste Geist antwortete. »Sie ist Tu’la ne la Ra Kayn … die Hexe vom Geiststein!«
Tol chuk zog ratlos die Brauen zusammen. Die Triade flüchtete sich hinter ihn, als suche sie Schutz.
Die schwarze Frauengestalt schwebte inmitten der silbrig schimmernden Wolke ihres Haares, ohne den Ausbruch zu beachten. Sie wurde nur immer schwärzer, und das Nebelhaar knisterte noch heftiger. Zorn stand in ihren Augen, aber auch eine grenzenlose Traurigkeit.
Nur allmählich drangen die Worte der Triade in Tol’chuks Bewusstsein. »Die Hexe vom Geiststein«, murmelte er und starrte die Erscheinung hilflos an. Auf einmal durchzuckte ihn wie ein greller Blitz die Erkenntnis. Wieder sah er die Ähnlichkeit mit Elena. Eine zweite Hexe … Er wich zurück, stolperte, rang nach Atem und stieß endlich den Namen hervor, unter dem er sie kannte: »Die Hexe von Geist und Stein!«
Die schwarzen Augen
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