Alaska
ganz anders war. Wie ihre Heimatinsel war Kodiak ein ödes Land, ausgezackt mit Buchten und umschlossen von Bergen, aber es erhob sich kein Vulkan. Dafür hatte die Insel etwas zu bieten, was sie noch nie gesehen hatte: Auf manchen Wiesen standen Erlen, niedrig wachsende, strauchähnliche Bäume, und Cidaq war erstaunt zu sehen, wie sich Blätter und Zweige im Wind bewegten. An ein paar geschützten Stellen standen ganze Baumgruppen, Pappeln mit weißer abschälender Borke, und am anderen Ende des Dorfes, in dem sie leben sollte, erhob sich eine mächtige Fichte, deren überragende Höhe und grünblaue Farbe sie gänzlich verwunderte.
»Was ist das?« fragte sie eine Frau, die gerade Fische aus einem Boot trug.
»Ein Baum.«
»Und was ist ein Baum?«
»Da steht einer«, und Cidaq sah verwundert die Fichte hoch.
Der Ort war nur eine kleine Ansammlung behelfsmäßiger Hütten, die sich an die Küste einer Bucht schmiegten, die den Schiffen der Pelzhändler einen sicheren Ankerplatz bot, denn sie war durch eine große Insel ein paar hundert Meter vor der Küste geschützt. Das Dorf konnte sich jedoch nicht weiter ausdehnen, es hatte kein Hinterland und lag eingeklemmt zu Füßen hoher Berge.
Es dauerte zwei Tage, in denen sie sich von Hütte zu Hütte durchschlug, bis Cidaq den wichtigsten Unterschied zwischen Lapak und Kodiak erkannt hatte: Die Menschen ihrer neuen Heimat unterteilten sich streng in vier Gruppen. Es gab einmal die Aleuten wie sie, die von Russen auf die Insel gebracht worden waren; sie waren klein, was ihre Körpergröße, ihre Zahl und damit auch ihre Bedeutung betraf. Dann waren da die Eingeborenen, die die Insel schon immer bewohnt hatten, sie wurden Koniags genannt, waren groß gewachsen, schwierige Menschen, schnell aufbrausend und den Aleuten zahlenmäßig um das Zwanzigfache überlegen. Ein Aleute, der Cidaq von Lapak her kannte, meinte zu ihr: »Die Russen haben uns geholt, weil sie mit den Koniags nicht fertig wurden.« Auf der nächsten Stufe der örtlichen Hierarchie standen die Pelzhändler, wilde, schreckliche Männer, die ihr ganzes Leben hier stationiert waren, es sei denn, sie fanden gegen Ende ihres Lebens einen plausiblen Grund, um mit einer Ladung Pelze nach Petropavlovsk zurückzukehren. Schließlich gab es noch die wenigen echten Russen, gewöhnlich Söhne aus privilegierten Familien, die ein paar Jahre ihren Dienst hier versahen, bis sie genügend Diebesbeute gemacht hatten, um sich auf einem Landsitz bei Petersburg zur Ruhe zu setzen. Sie bildeten die Elite, und die drei anderen Gruppen hatten sich nach ihren Vorschriften zu richten; manchmal legte sogar ein Kriegsschiff an, um den Gehorsam mit Gewalt zu erzwingen.
Cidaq mangelte es noch an Erfahrung, um zu begreifen, dass ihre Landsleute auf der Insel, die Aleuten, Sklaven waren; es gab kein anderes Wort, denn die russischen Herren über ihnen übten absolute Macht aus, der man nicht entfliehen konnte, denn wenn ein Aleute weglief, musste er befürchten, von den Koniags umgebracht zu werden. Ohne Frauen, die ihnen im Leid beistehen konnten, und ohne nachwachsende Kinder, die ihren Platz eingenommen hätten, war den aleutischen Männern dasselbe Schicksal wie den von ihnen getrennten Frauen auf Lapak beschieden: Beide waren dazu verurteilt, nur ein kurzes Leben zu leben, zu sterben und die Ausrottung ihres Volkes zu erleben.
Selbst die Pelzhändler waren nicht viel besser dran, denn sie waren Leibeigene, gefesselt an die Insel, ohne Aussicht, dass sich ihre Lage jemals verbessern könnte, und ohne Hoffnung, nach Russland zurückzukehren, um sich dort ein Heim aufzubauen. Ihr einziger Trost bestand darin, sich eine Eingeborene zu nehmen oder sie einem Verheirateten zu entführen und Kinder mit ihr zu zeugen, Kreolen genannt, die später vielleicht die russische Staatsbürgerschaft erlangen würden. Ansonsten verfügte die Handelsgesellschaft über sie, für die sie sich bis zum Tod abrackern mussten , um die Schatzkammern des Reiches zu füllen.
Das Leben auf Kodiak war die Hölle, denn, wie Cidaq schnell herausfand, es gab nicht ausreichend zu essen, keine Arznei, keine Nähnadeln und keine Felle, aus denen etwas zu nähen gewesen wäre. Zu ihrer Überraschung musste sie feststellen, dass die Russen sich an die Umgebung in Kodiak längst nicht so einsichtsvoll angepasst hatten wie ihr Volk in Lapak. Sie selbst lebte außerhalb der offiziellen Gesellschaft, versteckte sich bei einer verarmten Familie nach der anderen,
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